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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Leseabenteuer zwischen Metaebene und Computerspiel

Hamburg

Diesen Roman nachzuerzählen ist schier unmöglich, selbst das Thema zu umreißen fällt schwer. Zwar gibt es einige Bücher, die sich lange vor Pelewins Roman „Tolstois Albtraum“ mit der Frage beschäftigen, was das eigentlich für Figuren sind, die der Schriftsteller erschafft, und die ihn in den gelungensten Fällen überleben. Was, wenn sie doch ein Leben hätten, über jenes, das sich beim Lesen entfaltet hinaus? Und dann ist da noch die Frage nach dem Leser? Welche Rolle spielt der eigentlich? Erweckt er die Figuren lediglich zum Leben, oder ist da noch mehr?

Aber noch niemand hat es auf diese Art getan. Bevor Pelewin aber diesen Fragen nachgeht, beschreibt er die Situation des gegenwärtigen Literaturbetriebs: „Von einem Schriftsteller erwartet man, dass er Lebenswahrnehmungen in einen Text verwandelt, der maximalen Gewinn erzielt. Verstehen Sie? Literarisches Schaffen ist heute die Kunst der Ausarbeitung von Buchstabenkombinationen, die sich möglichst gut verkaufen lassen.“

Als T., der zwar große Ähnlichkeit mit Tolstoi hat, aber ebenso gewaltige Unterschiede zu diesem aufweist, seinem vermeintlichen Schöpfer Ariel begegnet, erläutert ihm dieser, dass der Roman, dessen Held er ist, von insgesamt fünf verschiedenen Spezialisten geschrieben werde, die unterschiedliche Marktsegmente bedienen. Und so geht die Geschichte weiter, ebenso realitätsnah wie absurd kombiniert Pelewin Mythen mit Actionszenen, Abenteuerroman mit Philosophie und Satire mit Literaturgeschichte. Dorothea Trottenberg, die Übersetzerin Pelewins, versucht die anspielungsreichen Details in einem umfangreichen Fußnotendossier dem Leser nahezubringen, ohne den Erzählfluß zu beeinträchtigen.

Pelewins Fantasie ist überschäumend, sein satirischer Zugriff macht weder vor wirtschaftlichen Phänomenen noch vor dem Spiel mit der Verletzung religiöser Gefühle halt.

Schließlich kommt es zum Zerwürfnis mit den Auftraggebern des Romans und Ariel plant das Manuskript als Vorlage für ein Computerspiel zu verwenden. Durch diese Phase begleitet Dostojewski T.  „Man strengt sich an, sich etwas vorzumachen, aber sie lassen einen ja nicht“, denkt Dostojewski als er in die Geschichte eingeführt wird. Pelewin hat für sein Schreiben scheinbar eine Möglichkeit gefunden, sich und dem Leser vorzumachen, was ein Roman auch sein kann, nämlich ein irrwitziges von Fantasie überschäumendes, genreübergreifendes Konglomerat.

Das ist spannend und absurd, witzig und zuweilen anstrengend, weil die Ebenen ständig wechseln, weil die Handlung immer wieder mit der Metaebene verknüpft wird. Solowjow, der Philosoph, der T. schließlich maßgeblich bei der Lösung seiner Aufgabe hilft, sagt bei der Begegnung mit T. folgendes: „Sie sind tatsächlich der Held eines Romans. Aber der Roman handelt nicht von Ihnen. Es ist ein Roman über Ariel Edmundowitsch Brahman und seine Gehilfen, die über einen Golem mit Namen Graf T. gebieten, den sie sanft, aber nachdrücklich dazu bringen, seine Suche nach der ewigen Wahrheit aufzugeben und stattdessen in einem Konsolen-Shooter Seelen auszusaugen, und das damit motivieren, dass die Krise und der Markt das verlangen. Der Roman ist die Beschreibung dieses Prozesses von A bis Z.“

Dass man als Leser dranbleibt an T. und seiner Geschichte, liegt weniger an der verrückten Mischung der Einfälle und Wendungen, als vielmehr am großen Geschick Pelewins sämtliche Regeln und Gewißheiten selbstironisch außer Kraft zu setzen.

„Städte sind wie Uhren“, dachte T., nur messen sie die Zeit nicht, sondern sie erzeugen sie. Jede große Stadt erzeugt ihre besondere Zeit, die nur diejenigen kennen, die darin leben. Jeden Morgen greifen die Menschen ineinander wie Zahnräder, schleppen sich gegenseitig aus ihren Höhlen, und jedes Zahnrad dreht sich bis zum kompletten Verschleiß an seinem Platz, felsenfest überzeugt, dass es sich zu seinem Glück dreht.“

In Pelewins Roman gibt es keine felsenfeste Überzeugung, die nicht außer Kraft gesetzt werden kann, nur darum ist es möglich, dass Abenteuerroman und Satire, Konsolenspiel und Philosophie wie Zahnräder ineinander greifen, die sich niemals bis zum kompletten Verschleiß, aber in den meisten Fällen zum Glück des Lesers drehen.

Viktor Pelewin
Tolstois Albtraum
Übersetzung:
Dorothea Trottenberg
Luchterhand
2013 · 448 Seiten · 21,99 Euro
ISBN:
978-3-630-87388-6

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