Atemloser Lauf von einer Gefangenschaft in die andere
Auf dem Schutzumschlag des Buches sieht man das Gesicht von Albertine Sarrazin, verborgen hinter den Buchstaben. Eine intelligent anspielungsreiche Gestaltung. Denn so wie ihre Heldin Anne, hat Albertine Sarrazin einen Großteil ihres Lebens hinter Gittern verbracht, und sie hat geschrieben, oder sollte man sagen, sie hat sich mit Hilfe der Buchstaben befreit?
Als „Astragalus“ Mitte der 60er Jahre zum Kultbuch wurde, nicht zuletzt durch die Unterstützung Simone de Beauvoirs, schrieb diese: „Zum ersten Mal spricht eine Frau über ihre Gefängnisse“.
Source: Porovaara Francoise Sagan
Was dem Buch heute noch, fünfzig Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen, Leser und Anerkennung zuteilwerden lässt, ist die Tatsache, dass es nicht nur um die buchstäblichen Gefängnisse geht, die Albertine Sarrazin durchaus zur Genüge von innen kennen gelernt hat, sondern dass dieses Buch ebenso von den Gefangenschaften in der Welt ohne Schließer und vergitterten Fenstern spricht; vom Warten, von der Liebe, von etwas, in dem sich nicht nur Patti Smith wiedererkennt, die ein sehr persönliches und empathisches Nachwort zu der jetzt vorliegenden dritten Übersetzung des Romans ins Deutsche, beigesteuert hat.
Der Roman beginnt mit Annes Sprung in die Freiheit. Als sie jenseits der Gefängnismauer landet, ist der Fuß gebrochen, ihr Wille jedoch nicht. Dieser eiserne, unerschütterliche Wille, der sie die Schmerzen nicht nur ertragen, sondern darüber hinaus atemberaubend mitleidlos beschreiben lässt. Anne schleppt sie sich weiter in Richtung Straße, wo sie schließlich von einem aufgelesen wird, in dem sie sofort einen Schicksalsverwandten erkennt, und „ein neues Zeitalter beginnt.“
Doch die Euphorie währt nur kurz, denn schon bald muss Anne erkennen, dass sie lediglich eine Art der Gefangenschaft gegen eine andere eingetauscht hat, von Versteck zu Versteck geschoben, bleibt sie mit dem unbehandelten Fuß und dem Warten auf Julien allein. Als der Fuß schließlich wie abgestorben aussieht, bringt man sie endlich ins Krankenhaus, Julien kommt für die Behandlungskosten auf. Und als Anne wieder leidlich gehen kann, stellt sie sich auf die eigenen Beine, nicht zuletzt um Julien zu halten, in den sie sich längst verliebt hat. Am Abend ihres zwanzigsten Geburtstages läuft alles schief: „Er erfüllte keinen meiner Wünsche, und wir brachten uns mit den Neigen aus den Flaschen und Wortgefechten in Rage, wollten uns festhalten und stießen an die blinde Mauer der Unmöglichkeiten, bis ich am Ende eine Ohrfeige bekam und zurückgab.“
Ihre Verstecke sucht sich Anne von nun an selbst, auch finanziell hat sie sich von Julien unabhängig gemacht. Aber die Freiheit hat ihren Preis: „Alle Stunden haben dieselbe Farbe der Gefahr.“ Dank ihrer Intuition gelingt es Anne, unentdeckt und unversehrt zu bleiben, und doch, obwohl sie immer weiter läuft, seit der Fuß es wieder zulässt, gesteht sie Julien gegenüber: „Meine Freiheit stört mich. Ich würde gern in einem Gefängnis leben, dessen Tür du verschließen und aufbrechen könntest, etwas öfter, etwas länger.“
Mit einem Einbruch kommt Anne zu einer größeren Summe Geld und als Julien nach einer kurzen Gefängnisstrafe wieder freikommt, scheint sich der Traum von einem gemeinsamen Leben zu erfüllen. Aber die Polizei ist Anne noch immer auf der Spur.
„ich lächle. Julien wird uns vorbeigehen sehen, er wird verstehen, dass ich etwas zu spät komme und dass es nicht meine Schuld ist.
Mach dir bloß keinen Kopf, auf der leuchtenden Plattform finden wir uns wieder. Einer von uns ist noch auf dem unteren Grat, wir müssen abwechselnd klettern und ziehen, das Ausruhen rückt in weite Ferne. ¡K Egal, ich laufe. Vor dem Bullen gehe ich die Treppe hinunter und humpele kaum.“
Ich kann die letzten Sätze getrost zitieren, denn „Astragalus“ lebt nicht von der Spannung dessen, was geschieht, sondern von der Kraft seiner Protagonistin immer weiter zu laufen, ob mit gebrochenem Fuß, oder mit der Polizei im Rücken.
Albertine Sarrazin, 1937 unter dem Namen Anne-Marie Albertine Damien in Algier geboren, hat nie eine Heimat gehabt, ein Zuhause, dem die Freiheit ganz selbstverständlich innewohnte, also ist sie gelaufen. Zunächst weg von Zuhause, von dieser Adoptivfamilie, in der sie mit 10 Jahren vergewaltigt wurde, später aus den diversen Besserungsanstalten, in denen sie ihre Jugend verbrachte. Und sie hat geschrieben. Der Gefangenschaft ist sie in ihrem kurzen Leben nicht entkommen. Erst waren es die Gefängnisse, dann die Liebe zu Julien. Aufgegeben hat sie nie.
Die Freiheit, mit Preisen, und mit einem „bürgerlichen“ und „anständigem“ Leben mit Ehemann, hat sie nie genießen können. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag starb sie bei einer Routineoperation.
Dank der Neuauflage ihres Romans bleibt Albertine Sarrazin in Erinnerung. Dort läuft sie weiter, ungebrochen in ihrem Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung. Ungeachtet all der Niederlagen, überlebt ihre klare mitleidlose Sprache und die Kraft ihrer einfachen Sätze.
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