An der Nahtstelle zwischen Kenner und Könner
Ob man von den Höhenzügen der Eifel unweit der belgischen Grenze einen besonderen Blick über die Restrepublik hat, kann ich als Nichtkenner dieser Landschaft nicht exakt sagen. Dass man aber von dort aus eine geradezu radarscharfe Wahrnehmung über die zeitgenössische deutsche Lyrikszene haben kann, weiß ich ganz genau. Denn in dem Eifelstädtchen Sistig lebt Theo Breuer, einer der profundesten Kenner moderner Poesie made in Germany. Breuer arbeitet multifunktional: als Herausgeber (z.B. der verdienstvollen Edition YE), als Literaturzeitschriftenmacher, als Dichter, Übersetzer und natürlich als Essayist. Seine Essaybände wie die Monographien „Ohne Punkt & Komma“ über die Lyrik der 90er Jahre, der ziegelsteindicke Band „Aus dem Hinterland“ über die Lyrik nach 2000 und „Kiesel & Kastanie“ über Poesie und Prosa nach 2000 sind dabei weit mehr als nur meinungsstarke Essays. Es sind wertvolle Bestandsaufnahmen, die nicht nur die Beletage der feuilletongeherzten und preisgekrönten Dichter und Dichterinnen im Auge haben, sondern vor allem den „lyrischen Mittelstand“ (nicht zu verwechseln mit Mittelmaß!) mit seinen versteckten und unterschätzten Qualitäten kenntnisreich beleuchten. Breuer lässt sich dabei gar nicht erst auf Grabenkämpfe zwischen Lyrik-Realos und –Fundis ein, die in letzter Zeit wieder aufgeflammt sind. Bei aller Klarheit seines kritischen Urteils kennzeichnet diese Essays darüber hinaus eine bemerkenswerte Fairness und Akzeptanz der lyrischen Vielstimmigkeit. Manchmal hätte man sich in der Vergangenheit geradezu etwas mehr Wertung und etwas weniger Objektivität gewünscht. Umso spannender ist jetzt natürlich die Frage: Wie verfasst man selber Poesie unter Aufsicht alles bisher Geschriebenen? Was für Gedichte schreibt einer, der alles kennt – vom assoziativen Flow zur visuellen Poesie, vom profanen Paarreim zum kühnen Wortspiel, von der lexikalischen Grammatik bis zum Widmungsgedicht nach bekanntem Vorbild? Um es vorweg zu nehmen: Er schreibt von allem etwas und da wird es dann ambivalent. Welche Wirkung hat das auf den Leser?
Ich muss zugeben, ich habe lange und immer wieder in dem aktuellen Band „Das gewonnene Alphabet“ gelesen, ohne zu einem Gesamturteil kommen zu können. Es war eine irrlichternde Erfahrung zwischen Faszination und Irritation. Vielleicht wollte ich mir selbst nicht eingestehen, dass mich etwas bei der Lektüre verwirrt. Es hat lange gedauert, bis ich herausfand, was mich irritiert: Man wird beim Lesen der Gedichte nicht in Ruhe gelassen. Dabei ist es nicht die Stimme des Autors, die stört. Es ist die Vielzahl der Zitate. Das beginnt schon beim Titel. Er ist zwar kein Zitat, sondern ein Derivat, sozusagen eine Antwort auf den Titel der von Michael Braun und Hans Thill in den 90ern Jahren edierten Lyrik-Anthologie „Das verlorene Alphabet“. Auf den Titel, so Theo Breuer in einer Art Nachwort, kam er bei einem Telefonat mit Axel Kutsch. So weit, so gut. Doch das Sampling und Namedropping geht mit der Lektüre erst richtig los. Von Goethe bis Mayröcker, von Benn bis Rinck geht es durchs wilde Zitatistan. Kein Gedicht ohne einleitendes oder ausklingendes Zitat, dazu kommen Widmungen oder kursiv gesetzte Querverweise im Vers. Was bezweckt Breuer damit? Will er seine lyrische Bildung Gassi führen? Nein, es geht ihm eher um Vernetzung. Er will mit seinen Gedichten aufgehoben sein in literarischen Bezügen und Verknüpfungen. Es erinnert etwas an das einsame Turnen des Artisten in der Zirkuskuppel. Das darunter gespannte Netz dient der Sicherheit. So auch bei Theo Breuer. Die Heterogenität der zitierten Stimmen dient weniger dem Vorzeigen des eigenen Kenntnisreichtums als der Absicherung nach allen Seiten. Doch das Bild des Netzes lässt sich auch kritischer interpretieren. Wer seine Gedichte so dicht mit anderen lyrischen Funkmasten umstellt, muss sich nicht wundern, wenn diese Masten Störsignale aussenden, wo es doch eigentlich um die Einbettung in Netzqualität und die Klarheit der eigenen Stimme geht.
Auch bei den Gedichten selbst zieht Breuer alle möglichen Register lyrischen Sprechens: Da steht der fußballbezogene Knittelvers: „elf buben balgen um den ball/doch dieses bloß gesetzt den Fall/daß elf weitre knaben kommen/um dem fußballspiel zu frommen“ (aus „o fortuna“) quasi in Nachbarschaft zu einer lyrischen Paraphrase des Jandl’schen Satzes „Die Rache der Sprache ist das Gedicht“, die dieses Diktum vokaltechnisch nach dem Beispiel „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ durchdekliniert. Da platziert sich ein avantgardistisches Sonett nach Stolterfoht’scher Art. („kühl grüßen parkscheinautomaten“) in Sichtweite zu einem etwas ranschmeißerischen „gedicht für kinder“. Da kommt eine Parodie auf van Hoddis’ “Weltende“, da klingt’s mal nach Kling, dann wieder gibt’s ein lyrisches Nachträufeln der „honigprotokolle“ von Monika Rinck. Breuer beherrscht die verschiedensten Tonlagen und Sprecharten. Oder beherrschen sie ihn? Ist das die Unbekümmertheit eines Virtuosen oder führt hier einer seine chamäleonhafte Kunstfertigkeit vor, in heterogene lyrische Stile schlüpfen zu können? Ein Rollenspiel, das einer allein gar nicht bewältigen kann. Wohl nicht zuletzt deshalb lässt Breuer drei andere Alter Egos zu Wort kommen: Bensch, Kraus und Peer Quer – so ihre Namen. Jedes dieses lyrischen Alternativ-Ichs hat seine feste Funktion: So ist Kraus mehr für die komplexen, Peer Quer mehr für die profanen Gedichte zuständig. Manchmal aber auch umgekehrt. Sie sind jedenfalls Kommentatoren, kritische Begleiter, Gedichtpersonal zugleich. Mensch Bensch! möchte man bisweilen ausrufen, wer findet denn da noch durch? Zumal der Dichter immer wieder den Wortspielautomaten rattern lässt oder durch Abtrennungen zusätzliche Bedeutungsfacetten herauskitzeln will: „Schmärz/sehen g/e/s/t/e/h/e/n( ein schimmelblick gräulichtlos/ zerspricht attrappe//“ Man ahnt, was Theo Breuer mit diesem Band erreichen wollte: ein Schatzkästlein aus Zitaten, Anregungen und Querverweisen sollte er sein, ein Mash Up aus verschiedenen Einflüssen, die hier versöhnt werden, heißgelaufene Wort(er)findungsmaschinen treffen auf kalte Alphabete und fulminante Glossare. Alle möglichen lyrischen Stile und Poetiken sollten zwischen zwei Buchdeckeln eingemeindet sein. Doch die hehre Ambition kommt – zumindest bei mir als Leser – zu oft in fraktaler Form, quasi als Cut-up-Gedicht an, das sich auch satztechnisch immer wieder selbst unterbricht, um seinen Anspielungsreichtum visuell kenntlich zu machen. Wie gesagt: Die Gedichte gönnen einem wenig Ruhe zum Innehalten, auch den Augen nicht.
Natürlich gibt es auch eine ganze Anzahl sehr schöner Ausnahmen. Zum Beispiel den Zyklus „zehn verbote“, in dem Breuer mit politischem Impetus und forciertem Binnenreim ein rasant durchrhythmisiertes Manifest für die Meinungsfreiheit präsentiert. Von wunderbarer Gelassenheit ist auch der dreiteilige Gedichtreigen „still he is turning“, der sich zunächst um die kuriosen Namen ursprünglicher Apfelsorten zu drehen scheint, dann aber im dritten Teil einen langsamen Kameraschwenk unternimmt hin zu
Der Garten Das Haus Der Tisch
Fragt leise: paar äste später sammeln?
also doch – noch einmal rausgehetzt ...
holz tief untern arm klemmen
luft schnappen und ringsum: sorgen
schafnasreste gammeln glasig
warten grasig gasig unter stämmen
jagt dieweil blätterduft warm durch
die luft in jedem sprühling ein gedicht
tut kund: a little bit of fish zu Mittag
und täglich muß der weise brief klagt
zum königlichen kasten (der weit ins
schmerzgrenzjenseits ragt) – – – aber jetzt:
z e i t n e h m e n für gutstarken tee –
gästepaar aus g. ist angesagt.in memoriam Michael Hamburger (1924 – 2007)
Hier nimmt sich Breuer wortwörtlich einmal Zeit in einem Gedicht, dieses Abwarten und Tee trinken tut auch dem Leser gut. Doch danach geht’s gleich atemlos weiter und allmählich wird einem klar, was einen stört. Es ist die Vorläufigkeit der Gedichte. In diesen Gebilden haben sich Zitate, Autoren und Quellen kurzzeitig niedergelassen wie ein Schwarm Vögel. Kaum ist das Gedicht zuende, fliegen sie wieder auseinander, weil es nur wenig poetische Bindekraft entfaltet. Breuer versteht seine Gedichte als Durchlauferhitzer für lyrische Einflüsse und sich selbst als Jongleur und Equilibrist, der sein Sprachmaterial spielerisch und mit hoher Artistik durch die Luft wirbelt. Währenddessen ein Nicken und Grüßen nach allen Seiten. Selbst das Nachwort zerfällt in stilistisch unterschiedliche Teile, wobei der erste Part den assoziativen Flow sehr verkrampft vorführt. Vielleicht passt ein anderes Bild besser zu Breuer: Er ist ein ungeheuer kenntnisreicher Anreger und Vermittler, seine Gedichte haben indes keinen Ort, es sind kommunizierende Röhren zwischen Anverwandlungen, Zitaten und lyrischen Stilen. Es fehlt ihnen ein Kern: eine eigene poetische Stimme. Nicht dass er sie nicht hätte, er scheint nur seinen Auftrag anders zu verstehen. Dennoch bietet „Das gewonnene Alphabet“ eine hoch spannende Leseerfahrung: Man erlebt 121 Seiten Sprachlust und Experimentierfreude, man erlebt aber auch, wie irritierend es sein kann, wenn der Kenner dem Könner permanent ins Handwerk pfuscht.
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