Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Eis am Stiel

Hamburg

„Eskimo Limon 9“ erzählt eine ungewöhnliche Geschichte. Es ist eine jüdische Geschichte, die umso ungewöhnlicher wird, wenn man einen Blick in die Biographie der jungen Autorin wirft, denn Sarah Diehl selbst ist keine Jüdin.

Ihr Roman spielt in einem kleinen hessischen Dorf. In Niederbrechen haben schon lange keine Juden mehr gelebt, erst als die Familie Allon – Vater Chen, Mutter Ziggy und der elfjährige Sohn Eran – aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, rückt die jüdische Thematik wieder zurück ins Bewusstsein der überforderten Bewohner. Ein an die Wand gemaltes Hakenkreuz, bei dem es sich auch um ein „Krickelkrackel“ handeln könnte, wird vor der Ankunft der Familie noch schnell übermalt. Seit sieben Monaten prangte das Symbol an einer Hauswand, zuvor hatte sich niemand groß darüber aufgeregt.

Für die Freunde in der Heimat ist es befremdlich, dass die Familie nach Deutschland gehen möchte. Für die Deutschen ist es befremdlich, dass ein schon längst verdrängter Teil ihrer Vergangenheit plötzlich wieder präsent wird. Wie verhält man sich da bloß?

Chen hat in der Nähe von Frankfurt eine Anstellung als Systeminformatiker gefunden, während Ziggy zu Hause bleibt. Beide gehen in ein Land, dessen Sprache sie nicht einwandfrei beherrschen. Es ist ihr Sohn Eran, der sich am schnellsten in der deutschen Schule eingewöhnt.

Sarah Diehl wirft in „Eskimo Limon 9“ einen Blick auf Selbst- und Fremdzuschreibungen und auf die Konstruktion von Identitäten. Diese zentrale Thematik ist bereits im Titel des Romans angelegt. Eskimo Limon ist ein israelischer Spielfilm, der in Deutschland unter dem Titel „Eis am Stiel“ bekannt geworden ist. Die wenigsten haben dabei geahnt, dass es sich um eine israelische Produktion handelt. Die Autorin führt unterschiedliche Perspektiven in die Erzählung ein; sie lässt Erans neuen Klassenlehrer darüber nachgrübeln, welche Exkursionsmöglichkeiten es gäbe, um den anderen Schülern vermitteln zu können, „mit wem sie es von nun an zu tun haben.“ Gibt es nicht vielleicht sogar spezielle Unterrichtsmaterialen für solche Fälle? Schließlich gibt es ja auch Informationsbroschüren für ausländische Schüler, da müsste es so etwas doch auch für Juden geben. Der Nachbar lädt die Familie auf einen Toast Hawaii ein, um gemeinsam über den Nahostkonflikt zu diskutieren und der städtische Verschönerungsverein überlegt aus einem leer stehenden Gebäude ein jüdisches Museum zu machen, das wollte man ja eigentlich schon immer mal machen. Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich die teilnehmenden Personen beinahe schon einem Theaterstück ähnlich benehmen und eine Rolle spielen, die von ihnen erwartet wird: die Bewohner Niederbrechens möchten sich als aufgeschlossen und offen präsentieren, haben aber dennoch Berührungsängste. Auch Chen und Ziggy rutschen schnell in eine Rolle, als in der Kneipe das Gespräch auf den Regisseur Rainer Werner Fassbinder kommt, äußert Chen – beinahe schon pflichtbewusst – einen Antisemitismusvorwurf. Es ist also kein Zufall, dass die Autorin in ihrem Nachwort darauf hinweist, dass ihre Geschichte von den Zwängen handelt, „die durch Identitätsbeschreibungen entstehen und die uns beim Menschsein gehörig einschränken.“ Natürlich hat Sarah Diehl aber auch einen Roman über die Religion geschrieben. An einer Stelle fragt sich Eran, ob ihn in einem christlichen Land denn immer noch sein eigener Gott beschützt oder wer nun für ihn zuständig sei.

Im Zentrum von „Eskimo Limon 9“ stehen wichtige Themen, es geht darum, wie ganze Generationen eine Vergangenheit bewältigen können und wie auch heutzutage noch, Reste dieser Vergangenheit die tägliche Kommunikation bestimmen können. Sarah Diehl gelingt es jedoch auf beinahe schon bezaubernde Art und Weise, all diese Aspekte mit leichter Hand, viel Humor und einem immer präsenten Augenzwinkern zu thematisieren. Dies liegt vor allem auch daran, dass die Autorin ihren Text mit wunderbaren Anspielungen aus der Populärkultur unterfüttert. Ziggy, die ohne eine wirkliche Aufgabe in einem ihr noch fremden Land lebt, beginnt damit, sich mit den Kulturgütern ihres Heimatlandes zu beschäftigen. Auslöser dafür ist ein Abend, an dem sie durch das deutsche Fernsehprogramm zappt und plötzlich auf den Film „Eskimo Limon“ stößt – die deutsche Synchronisation empfindet sie als Verfremdungseffekt, der nicht nur Befremdung auslöst, sondern auch ein ganz starkes Heimatgefühl. Mit Hilfe von Filmen und Musik taucht Ziggy, immer häufiger an der Seite ihres Nachbarn, in die Welt ihrer Heimat ein und nimmt diese zum ersten Mal aus einer ganz neuen Perspektive wahr.

Aus all diesen Bestandteilen und den popkulturellen Anspielungen (von denen ich leider längst nicht alle verstanden habe, die aber dazu einladen, das Buch noch einmal zu lesen!) mischt Sarah Diehl eine höchst lesenswerte Geschichte. „Eskimo Limon 9“ ist das Romandebüt einer interessanten Autorin, das Lust auf mehr macht.
 

Sarah Diehl
Eskimo Limon 9
Atrium
2013 · 320 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-85535-071-1

Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge