Macht kaputt was euch kaputt macht
Ulrike Edschmid versucht nach vielen Jahren zu verstehen, warum ihr Freund Philip S. sich der Bewegung 2. Juni angeschlossen hat.
Das Foto, auf dem eine junge Frau den Kopf des sterbenden Benno Ohnesorg hält, war für die damaligen Studenten der Beweis für die „strukturelle Gewalt“ des Staates. „Das Foto des erschossenen Studenten gehört zu den unauslöschlichen Erinnerungsbildern meiner Generation. Nichts blieb, wie es gewesen war.“ Dieser Satz auf einer der ersten Seiten des Romans könnte als Motto dienen, denn was danach folgt, ist Edschmids Versuch, den Weg ihres Lebensgefährten in die politische Illegalität nachzuvollziehen.
Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni mit nur 27 Jahren erschossen und sein Todesdatum gab der militanten linken „Bewegung 2. Juni“ ihren Namen. Als Mitgründer dieser Gruppe gilt Philip S. Auch die Autorin nennt ihn bei seinem Decknamen, in Wirklichkeit heißt er Werner Sauber. Als er 1975 nach einem Schusswechsel, bei dem er einen Polizisten getötet und einen zweiten schwer verletzt hatte, starb, war er ebenfalls nur 27 Jahre alt.
Die gemeinsame Geschichte der Autorin und des jungen Schweizers begann in der Berliner Filmakademie, an der Philip S. zusammen mit Harun Farocki und Holger Meins studierte. Mit diesen Kollegen wohnte er gemeinsam mit Ulrike Edschmid und deren kleinen Sohn in einem Haus. Später (siehe Überschrift) stieß noch Rio Reisers Band „Ton Steine Scherben“ dazu. Nichts deutete anfangs auf eine Karriere im Untergrund hin. „Er kommt an wie ein Mensch ohne Hinterland“, bracht alle Brücken zu seinem reichen (kapitalistischen) Elternhaus ab und wollte eigentlich nur Filme drehen. Sein Film „Der Wanderer“ bedeutete ihm viel und war, wie Farocki später in einem Interview sagte, „einer der schönsten Filme, der damals entstanden ist.“ Aber im Achtundsechziger Berlin war es schwer, sich nur auf ästhetische Fragen zu beschränken, denn, so schreibt die Autorin: „Was auch immer irgendwo auf der Welt geschieht, es hat mit unserem Leben zu tun, ganz gleich ob es sich um den Vietnamkrieg handelt, um alte Nazis in unserer Regierung oder um die Erhöhung der U-Bahntarife.“
Der Vietnamkrieg eskalierte, in Frankfurt brannte ein Kaufhaus, Holger Meins drehte seinen Film „Die Herstellung eines Molotow-Cocktails“ und sowohl Philip S. als auch die Autorin suchten noch die Balance zwischen privatem Glück und politischer Betätigung. Ulrike Edschmid hält als Chronistin die Ereignisse fest, andererseits will sie sich darüber klar werden, welchen Anteil ihr Freund und phasenweise auch sie an den gewalttätigen Auseinandersetzungen hatten. So wird deutlich, wie sie sich Stück für Stück radikalisierten. Den Beginn beschreibt sie manchmal, als seien die Ereignisse ohne ihr Zutun über sie gekommen. „Worte tauchen auf, die nicht unsere eigenen sind. Wir reden vom Klassenkampf, Proletariat, Imperialismus, von Dritter Welt und herrschender Klasse.“ Oder: „Was wir wollen, bestimmen die Bücher, die wir gerade lesen. Die Bücher sind für uns Handlungsanweisungen.“ Allerdings lasen Tausende anderer Studenten damals ebenfalls Marcuse, Reich, Benjamin, Adorno, Marx und Freud, ohne dieselben Konsequenzen daraus zu ziehen. Doch Edschmid spricht nun bereits von einem „Rollkommando aus dem Kinderladen“, das einem Doktoranten einen Text von Walter Benjamin entreißt und vor ihm veröffentlicht. Spätestens mit den Unruhen um das Springerhochhaus wird die Radikalisierung deutlich. Philip S. kaufte sich eine Militärjacke, mit vielen Taschen für Steine. Mit weiteren 17 Studenten flog er von der Filmakademie und in Italien „gerät“ er in eine Demonstration, in deren Verlauf ihm ein Molotow-Cocktail „zugesteckt“ wird, der ihm aus der Tasche fiel und auf dem Boden zerbracht. Auch diesen Satz könnte man so lesen, als ob Philip S. völlig unschuldig an dieser Situation gewesen sei. Aber die Autorin sieht ganz deutlich, dass er die Gefährlichkeit seines Handelns auch für andere „wie mit einem Schnitt“ ausblendete. Das gilt teilweise für die Autorin selbst. Wieder vor dem Amerikahaus warf auch sie einen Pflasterstein. „Mein Stein landet in einer Hecke“, schreibt sie nach über vierzig Jahren und erklärt: „Alle Versuche, Jahre später etwas auf einen Begriff zu bringen, was in der Stimmung eines Augenblicks entstanden ist, führen zu falschen Worten und falschen Sätzen. Sie bleiben Rechtfertigungen, zu moralisch oder zu leicht genommen.“
Ihr Kind rettete sie schließlich davor, in den Untergrund abzurutschen. Der Kleine, der sich mit einer Armbrust vor einem Polizisten aufbaute, während dieser die Wohnung durchsuchte. Philip S. und Ulrike Edschmid wurden verhaftet und unschuldig angeklagt, eine Rohrbombe unter einem Polizeiauto platziert zu haben. Nach diesem Gefängnisaufenthalt mit Isolationshaft trennten sich langfristig die Wege des Paares. Denn während sich Philip S. allmählich der Bewegung 2. Juni anschloss und sich nie mehr einsperren lassen wollte, reichten ihre Gedanken in der Zelle, „nur bis zu meinem kleinen Sohn.“ Und die Worte, „die Philip S. bald sagen würde: Dass man bereit sein müsse, sich von seinen eigenen Kindern zu trennen, wenn man eine bessere Welt für alle schaffen wolle“, bewegten die Autorin dazu, den für ihr Kind gefährlichen Weg ihres Freundes nicht mitzugehen. Sie wollte nicht wie Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin handeln, die ihre Kinder im Stich ließen. Eine Zeit lang machte sie noch aus Liebe mit, doch irgendwann verließ sie ihn und zog nach Frankfurt. Dort sah sie ihn auf Fahndungsplakaten und manchmal trafen sie sich klammheimlich an unauffälligen Orten.
Mit wenigen Ausnahmen nennt Ulrike Edschmid die Personen des Romans nicht beim Namen. So heißt es an einer Stelle, dass die Polizei einen entflohenen Häftling suchen würde, der „im Protest gegen den Vietnamkrieg in einem Frankfurter Kaufhaus Feuer gelegt hat“ und der „mit Hilfe einer bekannte Journalistin entfloh.“ Ich lese sofort „Bader“ und „Meinhof, sehe, wie Ulrike Meinhof sich mit dieser Aktion gegen ihr bisheriges Leben entscheidet.“ Benno Ohnesorg bleibt der „erschossene Student“ und Rudi Dutschke „ein bekannter Studentenführer“. Dies ist vielleicht der Tatsache geschuldet, dass der Fokus ganz auf der Geschichte des Philip S. liegt und es eigentlich auch gleichgültig ist, was die anderen gemacht haben. Aber während ich als Zeitgenossin bei den meisten Beschreibungen sofort konkrete Bilder vor mir sehe (z. B. Holger Meins bei seiner Verhaftung mit nacktem Oberkörper) oder weiß, welche Bedeutung die Befreiung Baders für den weiteren Verlauf der RAF und ihrer Anhänger hatte, frage ich mich, wie junge Menschen den Roman lesen.
Aber wie unterschiedlich er auch rezipiert werden mag, er wird Philip S. gerecht, weil er dessen Spuren mit Zuneigung verfolgt und dennoch nichts beschönigt.
Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben