Gespenster
Das dominante Gen eines deutschen Professors, heißt es, ist nicht das zur Idee, sondern zur Durchführung. Die Idee selbst ist wenig wert, impact points generiert sie erst, wenn sie reichhaltig ausgeführt ist. Man sammelt dazu einige Begriffe aus dem Kontext und schleppt diese im germanistischen Fall als eine Art Leimrute durch die Literaturgeschichte, das Klebengebliebene wird mehr oder weniger gründlich durchgeknetet an die Zeitschriften ausgereicht, häuft sich ein Thema, so fügt ein Guter Rosinen zu, lässt quellen und steckt es bei 200 Seiten in den Verlagsbackofen. Bei erfahrenen Autoren muss die Rute gar nicht mal eine Idee sein, ein Gedanke ist genug und bei Professoren reicht etwas, was einem Gedanken genügend ähnlich sieht.
Der emeritierte Germanistik-Professor Heinz Schlaffer hat dieses Verfahren kürzlich wieder ausführlich vorexerziert, um eine Art Generalabrechnung mit der Lyrik zu formulieren. Seine Kernaussage ist nicht neu, die Lyrik ist demnach eine übriggebliebene Form, die an vormoderne Reflexe appelliert und zunehmend vergeblich einen magischen Nimbus hegt und pflegt, der aus archaischen Zeiten stammt. Reichhaltige Gedanken, die andere Rezensenten in dem Werk fanden, gelang es mir nicht zu entdecken, stattdessen empfand ich leicht ermüdende Wiederholungen, das mag an mir liegen. Amüsant fand ich jedoch die Gestaltung des Buches, die das vernichtend-dekonstruktivistische Gezupfe auf der Feuerbachschen Leier in so freundliche Worte fasst, dass diverse Rezensenten eine Wohlgesonnenheit des Autors gegenüber Lyrik unterstellten.
Der Gedankengang ist denkbar schlicht: Lyrik verdankt ihre eigenwillige Sprachformung der Anrufung von Geistern. Und „Was einst ernst war, lebt als Spiel weiter.“ (S. 15) Der Schluss daraus ist klar: Geister sind Quatsch, also ist Lyrik zwar ästhetisch reizvoll, aber nicht mehr als eine Reminiszenz an vergangene Zeiten. Schlaffer sieht es als Illusion und Fehlinterpretation an „dass der Dichter seinem Leser etwas in poetischer Form mitteilen wolle. (…) Vielmehr entspricht der Ablauf lyrischer Kommunikation dem Gottesdienst, in dem der Priester vor der Gemeinde und stellvertretend für sie Gott anruft.“ (S. 23) Also nichts da mit einem dichterischen Bemühen um irgendeine Art von Wahrheit oder der mühsam erkämpfte Vermittlung einer Inspiration, alles vorkritischer Hokuspokus. Schlaffer findet Lyrik niedlich, gerade in ihrem Versuch, über Anrufungen, Metrik, Reim und Rhythmus eine Hochsprache zu formen, aber etwa so, wie ein Quantenforscher die Aristotelische Physik putzig finden mag.
Beschreibungen der Lektüre moderner Lyrik mit Sätzen wie „Zwar dient die neuzeitliche Lyrik nur selten noch dem Fest, der Gemeinschaft, dem Kult, der Beschwörung, der Kommunikation mit Geistern, aber eine gewisse Festlichkeit und Erhebung (…) lassen den ältesten Zweck unter gänzlich veränderten Bedingungen ahnen. (…) Im Reservat der modernen Gefühlswelt kehrt die vergangene kultische Praxis imaginär zurück.“ durchziehen das gesamt Buch (S. 191). Das wird vermutlich in diversen Gedichten, wenn man die Laienproduktion einbezieht, der Fall sein. Aber trifft es das, was moderne Lyrik, sagen wir nach dem Expressionismus, ausmacht? Wenn die zweckorientierte Sprachebene verlassen werden will, wie soll das anders geschehen als durch die Poundschen Logopoeia (Wortgebrauch abseits des üblichen Sinns), Phanopoeia (projizieren einer visuellen Vorstellung auf den Geist), Melopoeia (Aufladen durch den Klang): und jede von diesen hat ihre historischen Wurzeln und wurde natürlich auch in religiösem Zusammenhang verwendet.
Andersrum muss die arme Lyrik die Kritik gar nicht persönlich nehmen, Schlaffers Vorwurf der ‚Geistersprache‘ trifft im Ansatz nicht nur die Künste, sondern die Geisteswissenschaften insgesamt. Der Haken, an dem seine Kritik ansetzt, liegt im Wort Geist verborgen, er selbst ersetzt es im Verlauf durch Gespenstersprache – das ist es, was er in der Lyrik sieht, Wiedergänger einer vergangenen Zeit. Für ihn ist Geist selbst ein Wort, das nicht einmal den Versuch einer gedanklichen Ladung Wert ist, er benutzt es als Chiffre für vorbewusste, im Kern archaische Gespenster, schattenhafte emotionale Schemen, die die Menschheit früher vor sich hin stellte, die er, sei es als Naturgötter oder als personale Götter oder als Musen durch Jahrtausende anrief bis zum „ Oh hoher Baum im Ohr“.
Einen Gedanken mag ich so etwas nicht nennen, mit diesem Motiv oder Schema rennt er durch sein Wissen, subsumiert weite Teile der vergangenen Lyrik darunter und kommt zum Resümee „Wie keine andere literarische Gattung stellt nun das Gedicht eine schöne, von aller prosaischen Wirklichkeit abgewandte, in sich vollständige Gestalt dar.“ (S. 190) Solcher Quark durchsetzt den Text umso häufiger, je näher er modernen Ansätzen kommt.
Dass sich die moderne Lyrik seinem „Geistersprachen“- Ansatz weitgehend verweigert, müsste ihn eigentlich für sie einnehmen – so ist es aber nicht. Da er in Lyrik prinzipiell, als Wesensbestimmung, eine archaische Anrufung sieht, nimmt er das häufige Fehlen seiner charakteristischen Merkmale übel. Er wählt ein Gedicht von Sylvia Plath, um vorzuführen, wie biographische Kontexte sich darin spiegeln, und um damit zu zeigen: moderne Gedichte sind entweder Schlüsseltexte, für die Einblick in biographische Zusammenhänge nötig sei, um sie zu verstehen, oder selbstreflexive Gebilde, die aus der Not der Inhaltsleere eine Tugend machen.
Nun, dass im modernen Gedicht ein positiver Erkenntnisanspruch mit einem nicht-trivialer Begriff von Erkenntnis liegt, den diejenigen attackieren, die sich nur an Naturwissenschaft orientieren, das müssen Lyriker ertragen. Aber auch, dass Geisteswissenschaftler Lyrik kritisieren, weil sie prinzipiell nichts mehr von ‚Geist‘ halten? Geisteswissenschaftler, die das intellektuelle Erlebnis, um das sich nicht nur moderne lyrische Texte bemühen - das diese in seinem eigenen Gehalt als konkrete geistige Bewegung zu kommunizieren versuchen, damit es im Leser zu dessen eigenem Erleben werden kann – die das alles zu archaischem Mumpitz erklären?
„Der moderne Leser erwartet, dass ein neues Gedicht etwas erfindet, was er nicht einmal ahnen konnte. Deshalb ist es erfolgreicher, wenn es gegen die Regel verstößt, als wenn es sie einhält.“ (S.188) Ich möchte schreien bei solchen Sätzen. „In immer neuen und meist dunklen Bildern spricht das moderne Gedicht mit Vorliebe vom Dichten und vom Dichter, vielleicht weil es sonst wenig in der Welt zu sagen und auszurichten hat.“ (S. 195) Ich höre auf. Im Kern ist das alles ein Wiederkäuen von platten, hundert Jahre alten Ressentiments. Ein Buch, das für unkritische Leser jeden Zugang zu moderner Lyrik zuschütten wird, ein Ärgernis.
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