Lesart
Christine Marendon* 1964

Für das X

Das X als Elementargedicht

Das Gedicht "Für das X" von Christine Marendon ist einem Zyklus von Alphabet-Gedichten entnommen. Nun verhält es sich mit Alphabetgedichten so, dass die Buchstaben X und Y, mangels von ihnen angeführter Wortmasse, zu den schillerndsten Problemkindern aller ABC-Konzeptionen gehören. Das Gedicht "Für das X" macht aus diesem Problem auf eine offensive und entwaffnende Art einen Triumph. Im Gegensatz zu allen anderen Gedichten des Zyklusses ist es von einem minimalistischen Konzept getragen. Es nimmt den Buchstaben X als graphisches Zeichen ernst und weist ihm eine neue Rolle zu: die des Kreuzes, wie man es vom Ankreuzen her kennt. Der Gedichtkörper selbst besteht lediglich aus zwei leeren Kreuzkästchen, hinter denen die Worte "Ja" und "Nein" stehen; der Leser wird also vom Gedicht zum ideellen Handeln genötigt, in dem er gezwungen wird, eine Entscheidung zu treffen. Der Titel ist eine Widmung an den zu behandelnden Buchstaben, wodurch das Gedicht etwas Hermetisches bekommt, sich wie in eine transparente Blase hüllt, die den Leser zum Hineinsehen einlädt, doch letztlich außen vor lässt; der Buchstabe X lässt sich seine große Schau als Entscheidungsträger nicht nehmen.
Das Gedicht reduziert den poetischen Akt zu einem der bloßen Entscheidung. Zwischen Ja und Nein, Schwarz und Weiß, sind keine Grauwerte möglich (die normalerweise bevorzugte Biotope von Gedichten sind); hier geht es um Alles oder Nichts, um 0 oder 1; um den Ursprung des binären Systems, das inzwischen zur zentralen Schaltstelle jedweden Forschungswerkzeugs (Computer) geworden ist und das seinerseits im Begriff ist, nicht einmal vor dem Unfassbaren halt zu machen (wie Gedichte! = hier gibt es den entscheidenden Zusammenschluss zwischen dem binären System und der Poesie). Zudem zappelt Christine Marendons Gedicht "Für das X" seit seiner Erstveröffentlichung im Netz, herausgefischt aus einem unaussprechlichen Meer binärer Entscheidungen.
Knapper ist kaum zu veranschaulichen, wie die Wahl als solche zum Gedicht werden kann. Das Treffen von Enscheidungen bestimmt jedwedes Handeln; diese Entscheidung zu Poesie zu erheben, bedeutet auch, eine Utopie kund zu tun: nämlich die, dass der handelnde Akt als solcher schon poetisch ist - - und, wenn man weiterdenken will: das geschriebene Wort, die Poesie nicht braucht. Dies allerdings mittels Poesie zu erhellen ist paradox. Mir sind die poetischen Schlangen, die sich selbst in den Schwanz beißen, immer die liebsten.  

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