Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
[1]
Die Geste der Inventur
Eine nüchterne Bestandsaufnahme des materiell Überlebensnotwendigen und ein unbedingtes sich Überlassen dem Überflüssigen, dem Gedichteschreiben; ein schnodderig und erhaben sprechendes Ich; ein Ich, das sich wegduckt im Verhör und das mit souveräner Geste seinen Besitz vorzeigt; das den Leser – im deiktischen Sprechen – in die Sprech-Situation unmittelbar einbezieht und ihn zunehmend ausschließt, ein Geheimnis bewahrt.
Nüchtern, schnodderig: So eben mal, mit wegwerfender, lakonischer Geste, werden die zur Inventur anstehenden Dinge hingehalten.
Erhaben, unbedingt: Die rhythmische Gestaltung [2] des Gedichtes (in der Spannung zwischen natürlicher Sprechbetonung und metrischer Ordnung) enthält eine Musikalität, deren Kraft den prosaischen Inventur-Ton auflöst, wegspült. Man stelle versuchsweise in Vers 3 und 4 der dritten Strophe (hier beginnt das ´Bergen´) die Wortfolge um: ´den ich ......berge´: Die begehrlichen Augen würden ihre Begehrlich-, ihre Bedrohlichkeit verlieren, das Bergen bliebe eine blasse, unverbindliche Geste. Die zentrale vierte Strophe enthält als einzige einen doppelt unbetonten Auftakt (2. Vers). Der betonte Auftakt (´niemand´ - auf beiden Silben liegt eine Betonung, und betont bleiben auch die beiden nächsten Silben `verrate´) im letzten (4.) Vers hebt - verzweifelt und voller Selbstbewusstsein - die Entschlossenheit des Festhaltens am Geheimnis hervor, an dem das Geheimnis schützenden Menschen. Nicht, wie oberflächliches Lesen es sehen möchte, der Brotbeutel mit den wollenen Socken, doch eigentlich wie gemacht dafür, handfest, vernünftig, „dient“ als Kopfkissen, vielmehr ein „es“: „einiges, was ich/ niemand verrate“. Und ´so´ - nur ´so´ - kann, inmitten der entwürdigenden, entmenschlichenden Situation des Kriegsgefangenenlagers [3], in den ersten beiden Versen der nächsten Strophe (durch Komma, nicht durch Punkt von der vorherigen getrennt) die Sprache erhaben, würdig, menschlich werden: „so dient es als Kissen/nachts meinem Kopf.“
Wegduckend: Günter Eich war in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager. Vorstellbar ist, dass er die einschüchternde Überwältigungs-Situation des Verhörs, das kein Geheimnis duldet, kannte. ´Was ist das? ... Und das da?´ Auf solche Verhörfragen erfolgt die schüchterne, gehorsame Antwort: ´Dies ist ... Hier ist ...´
Souverän: ´Dies ist ... hier ist´ kann auch gesehen, gelesen werden als eine selbstbewusste Gebärde des sich Öffnens, mit der das Ich seine Würde bewahrt [4]. Dem ist das deiktische Sprechen [5] angemessen, das den Verhörer, Zuhörer, Zuschauer, Leser teilnehmen lässt an der Entfaltung und Gestaltung der Situation. In deren Verlauf gewinnen die Inventur-Gegenstände einen für das und vom Ich selbst bestimmten Wert. Ab der zweiten Strophe übernimmt das Ich die Deutungshoheit
Damit beginnt zugleich die Ausschließung der Verhörer, Zuhörer, Zuschauer, gesteigert zum ´Bergen´ (Strophe 3) und ´nicht Verraten´ (Strophe 4). Damit ist in doppelter Hinsicht das Zentrum des Gedichtes erreicht, aus dem es zugleich hervorgeht. Und mit seinem Entstehen gewinnen die Inventur-´Dinge´ eine neue, überhaupt erst eine ´Wirklichkeit´ [6]
Widersprüchliches enthält, widersprüchlich gebärdet sich dieses Gedicht. Widerspricht, widersteht, entzieht sich der vereinnahmenden Deutung - wie sein Verfasser [7]. Hat sein Zentrum in und entsteht aus dem ´Geborgenen´, ´niemand Verratenen´, dem Verschwiegenen, dem Geheimnis. [8]
Vom ´Geheimnis´ sprechend und aus ihm hervorgehend auch das Gedicht
Die Häherfeder
Ich bin, wo der Eichelhäher
zwischen den Zweigen streicht,
einem Geheimnis näher,
das nicht ins Bewußtsein reicht.Es preßt mir Herz und Lunge,
nimmt jäh mir den Atem fort,
es liegt mir auf der Zunge,
doch gibt es dafür kein Wort.Ich weiß nicht, welches der Dinge
oder ob es der Wind enthält.
Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?Der Häher warf seine blaue
Feder in den Sand.
Sie liegt wie eine schlaue
Antwort in meiner Hand.(„Abgelegene Höfe“, S. 58)
Inventur musste immer wieder als das Beispiel für ´Kahlschlagliteratur´ herhalten. Nach einem Kahlschlag bleibt nichts mehr übrig. Viel übrig zum Nachhorchen, Nachspüren, Nachdenken bleibt beim wiederholten Lesen dieses Gedichtes.
[1] Das Gedicht erschien erstmals in: Günter Eich: Abgelegene Gehöfte. Mit vier Holzschnitten von Karl Rössing. Bei: Georg, Kurt Schauer, Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. Printed in Germany, 1948, S. 42 f. Günter Eich hat es auch aufgenommen in die von ihm zusammengestellte Werkauswahl: „Ein Lesebuch“, die 1972 im Suhrkamp-Verlag erschien. Im Nachwort zur Taschenbuchausgabe (1981) schreibt die Mitherausgeberin Susanne Müller-Hanpft: „Geradezu unerbittlich und energisch war Eich nur in der Ablehnung der von ihm verworfenen, der vielzitierten, leicht verwertbaren, eingängigen Arbeiten.“ (S. 315) `Inventur´ gehört zu den ´vielzitierten´ Gedichten!
[2] Stil- und Formfragen waren für Günter Eich keine Nebensächlichkeit: „Literatur, wenn sie nicht Reportage und Unterhaltungsroman bleiben will, wird erst wesentlich und wirksam, wenn sie Form gewinnt, d.h. über das Dargestellte hinaus gültig ist ... Stil ist kein Schlafpulver, sondern ein Explosivstoff.“ „Die Korrespondenz eines Doppelkonsonanten in der ersten Zeile mit einem in der zweiten kann entscheidender sein als der Gefühls- oder Gedankeninhalt“. Aussagen Günter Eichs. Zitiert nach: Jürgen Zehnke: Poetische Ordnung als Ortung des Poeten. Günter Eichs Inventur. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 6. Gegenwart. Hrsg. von Walter Hinck. Stuttgart (Reclam)1982, S. 78f. Zehnke steckt das Gedicht nicht in die Schublade Kahlschlag.
„Metrum und Rhythmus haben eine paradoxe Doppeleigenschaft: sie prägen maßgeblich die (imaginäre) Sinnlichkeit von Dichtung“. Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik. Frankfurt (Suhrkamp), 2005, S. 10.
[3] In dieser Ausgabe folgt unmittelbar auf das Gedicht „Inventur“ das Gedicht „Latrine“; ich zitiere den Anfang und die dritte Strophe: „Über stinkendem Graben/Papier voll Blut und Urin“. „Irr mir im Ohre schallen/Verse von Hölderlin./In schneeiger Reinheit spiegeln/Wolken sich im Urin.“
[4] „Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien. Die Chance, in das Nichts der gelenkten Sprache ein Wort zu setzen, wäre vertan.“ Aus Günter Eichs Büchnerpreisrede 1959.
[5] Jetzt kommt der nüchterne (auch sensible) Grammatiker zu Wort: „Die Positions-Adverbien (i.e. da, hier, dort) dienen dazu, die Gesprächssituation nach ihren räumlichen Bedingungen zu charakterisieren. Dabei geht es grundsätzlich nicht, wenigstens primär, um den abstrakt-geometrischen Raum, sondern um den konkret-anschaulichen (>deiktischen<) Kommunikationsraum, wie er durch die leibliche Konfiguration der miteinander sprechenden Personen gebildet ist.“ Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. 3. Aufl. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft), 2005, S. 557.
[6] „Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.
Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muss sie erst herstellen.“ Günter Eich, aus „Der Schriftsteller vor der Realität“ ,zitiert nach dem ´Lesebuch´, S. 311.
[7] „Maulwürfe“ nennt Günter Eich eine 1968 erscheinende Sammlung von Prosatexten.
[8] Nochmals aus „Der Schriftsteller vor der Realität“: „Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben“.
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