In Augenschein

zu Gast: Sabina Lorenz

Gespräche über anonymisierte Texte (Ausgabe # 007)

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe In Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

Sabina Lorenz, 1967 in München geboren, studierte Sozialpädagogik in London und in ihrer Heimatstadt, wo sie heute als Autorin lebt. Nach ihren beiden Lyrikbänden "Echos für eine Nacht" (2010) und "Die Fremde ist ein Ort" (2007), beide in der Lyrikedition 2000 erschienen, legte sie 2011 den Roman „Aufhellungen“ im Verlag P. Kirchheim vor. Im selben Jahr erhielt sie den Förderpreis des Stuttgarter Schriftstellerhauses.  Sie zählte bis 2009 zu den Herausgebern der „außer.dem“, die zu den besten und wagemutigsten Literaturzeitschriften im Süden Deutschlands zählt.

In wiefern spielt Sammeln und Beobachten eines Rolle für die Lyrik? Könnte man sagen, dass sich etwa in verschiedenen Jahreszeiten verschiedene Schreibweisen einstellen, ein anderer Ton ergibt?

Ganz bestimmt spielt die Außenwelt eine große Rolle für meine Texte, für die meisten zumindest. Andere Beobachtungen erzeugen andere Bilder und dadurch auch andere Stimmungen. Die Art und Weise, wie ich schreibe, bleibt davon aber unabhängig. Es ist ja schwer zu sagen, ob sich ein Stil mit dem Inhalt entwickelt oder umgekehrt, ob ein bestimmter Sound, der mir im Kopf herumspukt, den Inhalt festlegt oder umgekehrt. Zudem würde ich behaupten, dass ich unterschiedliche Herangehensweisen oder Stile zur Verfügung habe, die sich mit dem entwickeln, was ich sagen möchte. Auch wenn es mir natürlich oft genug passiert, dass ich erst am Ende selbst erkenne, was mir das Gedicht überhaupt sagen will. Mit dieser Erfahrung bin ich, denke ich, nicht allein. Dazu kommt dann noch das Moment der Auswahl dessen, was in der Schublade verschwinden soll. Ich habe sehr viele Schubladen (lacht). Die füllen sich mit Texten, die nirgends hinzugehören scheinen, die nicht zu dem passen, was man davor oder danach geschrieben hat. Das hat dann meist mit dem Sound zu tun.

Ist also die Selbstüberraschung im Schreiben eher eine Sache des Stils als des Inhalts?

Naja, Inhalte – es gibt ja diesen Satz, dass man immer da gleiche Gedicht schreibt. (lacht) Ich für meinen Teil habe immer das Bedürfnis, noch etwas Neues auszuprobieren, noch eine neue Schreibweise, um näher an etwas heranzukommen. Das ist das Spielfeld der Versuche. Mit verschiedenen Stilen umkreise ich dann – etwas Nebulöses, Atmosphärisches. In verschiedenen Stilen schlägt sich dann der Versuch nieder, dem noch näher zu kommen, es noch besser greifen zu können, verschiedene Facetten davon ausdrücken zu können. Wer hat denn das noch mal gesagt, dass man sein Leben lang das gleiche Gedicht schreibt? Ich weiß es nicht mehr, aber den Satz finde ich ziemlich treffend.

Und wenn dieses eine Gedicht tatsächlich einmal geschrieben ist?

Dann fängt man natürlich wieder von vorne an und schreibt es noch mal oder bemerkt, dass es doch nicht so gut war. (lacht) In dieser Richtung gibt es ja viele Maximen, manche davon recht pathetisch. Ob mit dieser Rede vom einzigen Gedicht aber behauptet wird, dass es wichtiger ist, was gesagt wird, als wie es gesagt wird? Am Ende geht es doch darum, dass beides zusammenstimmt. Denn beides bestimmt ja, wie das Gedicht beim Leser ankommt, beide bestimmen, was es auslöst. Letztendlich zählt das. Ich denke, dass alle Dichter das Bedürfnis haben, andere zu berühren. Das ist die ganze Kunst, andere Menschen zu erreichen. Und da geht es dann schon hauptsächlich um das Wie, um den Stil.

Rein inhaltlich kommt ein Kunstwerk ja selten an das tatsächliche Leben heran. Aber ich glaube trotzdem, dass es möglich ist. Sie?

Ich frage mich in diesem Zusammenhang manchmal Folgendes: Es gibt Gedichte, die zum völligen Kitsch verkommen sind, weil jeder Depp sie in den furchtbarsten Lebenslagen tausendmal zitiert. „Der Panther“ von Rilke zum Beispiel. Warum ist das so, warum kann man es nicht mehr hören? Denn im Grunde ist das ein verdammt gutes Gedicht. Zu gut vielleicht, in diesem Sinne – dann ist es zum Blockbuster geworden. Wie all diese Kalenderzitate. Vielleicht wird da genau eine existenzielle Erfahrung in völlig durchschlagender, eingängiger Weise ausgedrückt. Das sind auch die Texte, an denen schon in der Schule die Korrespondenz von Stil und Inhalt gelehrt wird. Mit dem Ergebnis, dass man diese Texte gar nicht mehr richtig liest, weil man sie schon davor so satt hatte.

I.

Apokalypse, Nordzucker, neidlose Schafe
vor dürren Weißdornhecken,
wie mit Sütterlinschrift hingekrakelt
auf die abgefressene Schautafel Natur.
Und ein Lächeln, das mir die Worte stiehlt
vor Hamburg. Die Herkunft verschwimmt
in den vergangenen Katastrophen,
die angeblich kostengünstiger waren
als das andauernde Elend. Kaffee,
Bockwurst mit Brötchen, ein Seminar
über die schiefe Ebene für Schlauberger
und andere Optimisten, Schulstoff für Attentäter.
Und endlich das Wasser, die See,
geteert und gefedert, die bucklige Krümmung,
wie eine Klammer um all das Gesagte,
um die unangemessenen Wörter für Glück.

Krass. Schön. Ich weiß nicht genau, was ankommt, aber es kommt an. Gleich der Einstieg mit „Apokalypse“, das ist schon heftig, ein harter Schnitt. Das Gedicht fällt mit dem Ende der Dinge ins Haus. Da muss irgendetwas ganz Fürchterliches passiert sein, und plötzlich kommen dann diese „neidlosen Schafe“, Schafe, die keine Eifersucht kennen. Das Gedicht setzt in meinen Augen immer wieder sehr schwere Akzente: nach den „Apokalypsen“ dann die „Katastrophen“, der „Schulstoff für Attentäter“. Es entsteht eine eigentümliche Balance zwischen diesen schweren Gewichten und den relativ beiläufigen Beobachtungen, „Weißdornhecken“ und „Bockwurst“ etwa. Stilistisch ist das eine Aufzählung. Es entsteht der Eindruck eines Spaziergängers im Hamburger Hinterland, irgendwo. Sehr unaufgeregt, sehr prosaisch. Auch die Zeilenbrüche sind für mich Atempausen in der Aufzählung. Die „Sütterlinschrift“ passt da irgendwie überhaupt nicht hinein – wieso denkt jemand an Sütterlin? Das erscheint mir als ein Fremdkörper, vor allem da es als Vergleich erscheint und nicht als Beobachtung etwa eines alten Schildes.

Die Gegenwart scheint unaufgeregt, die Bedrohung kommt aus der Vergangenheit?

Das lyrische Ich läuft herum – und entweder die Katastrophe ist vergangen oder, und das scheint mir dem Wortlaut entgegen wahrscheinlicher, die Katastrophe dauert noch an und das Ich muss mit ihr fertig werden. Vor allem das Wort „neidlos“ bringt Unruhe hinein, das ist ein Stil der Negation. Denn ich vermute nicht, dass sich das Ich selbst als Schaf begreift, und also schwingen da Verlust oder Mangel mit, Eifersucht vielleicht. Und da ist das „Elend“. „ein Seminar / über die schiefe Ebene für Schlauberger / und andere Optimisten“, ich glaube, das Elend ist noch nicht vorbei. (lacht) Je länger ich das ansehe, desto mehr denke ich bei der „Apokalypse“ an eine Kommunikationsapokalypse. Was aber kann es heißen, dass die Wörter für Glück nicht angemessen sind? Das Umschreiben funktioniert nicht mehr. Wie kommt das Gedicht bei mir an? Was kommt an? Inhaltlich bekomme ich ein Gefühl von Beziehungskrieg. Etwas hat den Boden unter den Füßen weggezogen, aber es dauert noch an: die Apokalypse steht am Beginn und die Ebenen sind schief. Die anderen sind Optimisten, aber das stimmt alles nicht. Ich denke, dass das Gedicht für mich so gut funktioniert, hat mit dieser Beiläufigkeit bei aller Schwere zu tun. Die Landschaft liegt ruhig da, aber gleichzeitig ist da diese irrsinnige Bedrohung. Das wird alles sehr lapidar festgestellt, „hingekrakelt“. Zugleich geht es sehr viel um Worte selbst.

In dem Sinne, dass auch dieses innere Monologisieren plötzlich unangemessen geworden ist?

Ja, es könnte ja auch der innere Monolog sein, der gestohlen worden ist, der nicht mehr stattfinden kann. Aber die Gewalttätigkeit ist auch in der äußeren Welt, in der See, die geteert und  gefedert wurde. Das ist ein sehr starkes Bild! Diese Gewalttätigkeit wird auch über die wohlkalkulierten Stilbrüche zwischen Apokalypse und Bockwurst hinweg durchgehalten. Da geht es überall, knapp unterhalb der Worte, um Bestrafung, Amok, Richtungslosigkeit. Das scheint auch durch die Gleichklänge hindurch: Katastrophen, kostengünstig, Krümmung, Klammer. Scharfe Laute überall.

Dagegen kommt die weiche Bockwurst nicht an.

Nein, nicht wirklich. Die Katastrophe ist vorbei, aber es kann nicht mehr gut werden. Als würde man auf eine Bestrafung warten, als Einzelner. Vielleicht fühlen die Schafe auch nur deshalb keinen Neid, weil sie Herdentiere sind.

II.

übertreibung des himmels, hier wirft
die wolke den adlerschatten, ein flimmern

ein riesiger chor, für zehntausend blaue stimmen
und wind und steine am strand.

manisches rauschenantiker träumer
hier wird ein trümmer zum kiel eines kriegsschiffs

stehlen sich pinien aus den ruinen
wurzeln am weißbemähnten wasser

hier summen bienen, an deren pfoten gold klebt.
der schrott des ikarus liegt in den felsen

braun wie mönchskutte, durchlöchert
von ratten, von asche und sand überweht.

Hier sind die Zeilenbrüche wirklich Brüche, die auf Überlappung gebaut sind, nicht so nahtlos wie im ersten Gedicht. Das Schattenwerfen der ersten beiden Verse kann man wörtlich nehmen. Hier wird die Natur tatsächlich personifiziert und spiegelt sich in der Form des Gedichtes wieder: der eine Vers wirft seinen Schatten auf den nächsten. Die Enjambements sind sehr hart und auffällig. Wo die „stimmen“ herkommen, weiß ich nun nicht, aber da sie blau sind, nehmen sie wahrscheinlich teil an den Übertreibungen des Himmels. Das lyrische Ich taucht hier in eine Landschaft ein und eine Vergangenheit taucht auf. Um die Mitte des Gedichtes herum erscheint plötzlich Menschgemachtes, als Ruine und als Mythos. Dass das Wasser eine weiße Mähne hat, deutet auf Poseidon hin, der nicht nur für das Meer, sondern auch für Pferde zuständig war. Dass die Bienen Pfoten haben, ist, wie ich finde, ein wunderbares Bild. Dazwischen aber sind überall Dramen – Ikarus und ein Kriegsschiff, das ist alles ein Tick zu viel: Dramen der Übertreibung. Ikarus fliegt zu nah an die Sonne und stirbt einen sinnlosen Tod, das läuft alles auf die Vergänglichkeit zu, die die letzten Verse beherrscht. Eine sehr schöne Hymne an eine griechische Landschaft! Natürlich sind da diese antiken Markierungen, aber es ist ganz offensichtlich keine italienische Landschaft, es ist zu karg, zu heiß, zu viel Küste. Zum Drama, das diese Landschaft selbst erzählt, gehört natürlich auch der Chor. Aber ich muss sagen, dass es mich nachhaltig und sehr schön irritiert, dass die Bienen Pfoten haben.

Die Bienen werden dadurch riesig!, aber es bleibt freundlich und wird nicht zur Horrorvorstellung eines Rieseninsekts.

Ja, Pfoten sind etwas Freundliches, Sanftes, unbedingt. (lacht) Die schöne Entsprechung der Laute Gold-Pfote und der Farben! Demgegenüber steht die zerstörerische Vergänglichkeit der Ratten, der Asche und des Sandes, das ist natürlich Kernrepertoire. Ich denke, das Zentrum des Gedichtes ist dieser Gleichklang von „Träumer“ und „Trümmer“, es entsteht und zerfällt, alles im Anblick dieser Landschaft. Die Kriegsschiffe, die großen Schlachten der Antike, diese Dramen, die so furchtbar wichtig gewesen sind – das wird alles relativiert. Was bedeutet das überhaupt? Ist das so wichtig? Die Zeit vergeht so oder so und in ein paar Jahren ist es von der Natur alles wieder überwuchert. Ganze Kulturen sind plötzlich von Sand und Asche zugedeckt: Punkt, aus, basta. Und gleichzeitig demonstriert da Gedicht, wie es alles unvermittelt wieder da ist. Es genügt eine kleine Reibungsfläche.

Man muss nur einmal von Ikarus gehört haben und irgendwo in Griechenland stehen –

Und schon beginnt der Himmel zu übertreiben.

III.

im castello aragonese kaum kontur
mehr setzen die klarissinnen ihre
toten auf mauerbänke fleisch das
langsam zerfiel ins gebet vielleicht
wurde es für sie schließlich zu
jenem bild das die dahinter gehende
sonne seziert: mondbein und kahn
bein danach die wolken welche die
eigenen konstellationen in den
schiefer kratzen: leucothea thalia
danaëso viele namen die mir nicht
von der zunge gehen der wind löscht
sie allein das holz des selben
sterns fällt in die ziegelrote
kerbe der nacht und ein zweites mal

Ok. (liest ein zweites Mal). Also, durch die fehlende Satzzeichen löst das Gedicht auch die Lektüre sehr auf. Im Castello gibt es kaum Kontur und das Gedicht entzieht sich auch selbst jeder Kontur, es will keine Konturen setzen. Gleichzeitig sind da viele sehr genaue, überdeterminierte Begriffe. Was passiert aber, wenn Tote auf Mauerbänke gesetzt werden – in der Gegenwart, und das Fleisch zerfiel – in der Vergangenheit. Was ist denn eine Klarissin? Eine Art Nonne?

Ganz genau.

Die Zeitstruktur ist in jedem Falle schräg. Da läuft irgendetwas rückwärts, aber das Fleisch zerfällt ganz normal: nach vorn. (lacht) Ein Mondbein und ein Kahnbein, ein Stern, der aus Holz sein soll. Das ist schon ziemlich rätselhaft. Es ist ein Verfallsgedicht. Die Dinge fallen. Das Gedicht scheint mir, einen Bedeutungsverlust, eine Bedeutungslosigkeit zu demonstrieren. Die Klarissinnen leben ganz seltsam mit ihren Toten, die jetzt keine Bedeutung mehr haben, die schon zerfallen sind. Es geht um Rituale, die ihrer Bedeutung enthoben worden sind. Es dreht sich alles im Kreis, „und ein zweites mal“, da lebt im Grunde gar nichts mehr.

Ist da ein Widerspruch zwischen dem Zerfall und all diesen recht preziösen Worten?

Für mich ist das kein Widerspruch, denn gerade die Bedeutungslosigkeit drückt sich dadurch stärker aus: eine Aneinanderreihung von Elementen, die sich aber nicht aneinander reihen lassen. Es entzieht sich den Bedeutungszusammenhängen, die Satzzeichen stiften könnten. Es gibt nur zwei Doppelpunkte. Aber die Aufzählung, die sie auslösen, geht dem lyrischen Ich selbst nicht mehr „von der zunge“. Da ist noch die verbindende Kraft des Doppelpunktes, aber was verbindet er eigentlich? Es ist für mich kein Widerspruch, so viele Wörter zu brauchen, um Bedeutungslosigkeit zu umschreiben.

Also eine Leere, die durch Wörter erzeugt wird, und so leer ist, wie sie ohne Wörter gar nicht sein könnte?

Ja, da wird ein Ritus vergegenwärtigt, der kein Geben mehr in sich hat, und deshalb auch keine Bedeutung. Kaum Kontur. Das ist stilistisch schon sehr gut gelöst. Jedes Wort geht ins andere über, aber man kann dem ganzen keinen Umriss geben. Insofern ist es auch sehr konsequent, dass hier auf Satzzeichen verzichtet wird. Das ist hier keine modernistische Manier. Ich hatte früher einmal eine Phase, in der ich ohne Satzzeichen geschrieben habe, aber das habe ich wieder aufgehört. Dahinter kann man sich auch verstecken.

Inwiefern?

Man kann sich in eine Verwirrung verstricken. Manchmal geht das dann auf und es ist stimmig, dass Satzzeichen fehlen. Aber oft ist es eben eine bloßer Manierismus. In diesem Gedicht geht es, wie gesagt, auf. An manchen Stellen, wie etwa beim „kahn / bein“, weiß man nicht einmal, ob da etwas fehlt, ein Trennungsstrich. Das ist gut gemacht. Der Zerfall, der aufgezeigt wird, ist im Gedicht selbst. Es ist wie ein Gedicht, das in ein Gebet, in einen Ritus zerfällt. Wie ein Rosenkranz, ein Mantra, so lange wiederholt, bis kein Mensch mehr weiß, was da eigentlich gesagt wird. Es kommt mir so vor, als könnte das eigentlich nur Raoul Schrott sein.

IV.

in meinen Schläfen
baden zwei Eidechsen

die linke ist dienstlich
sie kam mit dem
Fahrrad die rechte ist
privat sie war im Salat

(lacht) Hört sich fast nach Ringelnatz an. Ich find’s witzig. Das ist irgendwie skurril, ich find’s gut. Wieso Eidechsen? (lacht) Es ist Nonsens. Zugleich diese leicht angeschliffenen Reime, Fahrrad-privat-Salat. Ich habe jetzt fast erwartet, dass sich auch noch etwas auf dienstlich reimt. Stilistisch fällt noch auf, dass der Zeilenbruch vor dem Fahrrad etwas ungenau ist. Aber so wie es ist, ist der Reim in der Zeile ein wenig versteckt. Die Eidechsen sind schön, das hat so etwas Sonniges.

Hier nun vielleicht die ausdrückliche Frage: von wem könnte das sein?

Von den Zeitgenossen? Also nach der Ringelnatz-Morgenstern-Riege? Hm. Wie heißt noch mal dieser Österreicher? Nein. Aber es gibt noch einen anderen Österreicher – –

Klingt österreichische Literatur entschieden anders als deutsche?

Ich finde schon, absolut. Die Österreicher trauen sich mehr, sind nicht so brav. Das ist bissiger, böser, da herrscht eine ganz andere Kultur der Ironie. Aber ich wüsste nun nicht, von wem dieses Gedicht ist. Gernhardt könnte auch Wörter wie „Eidechse“ oder „Salat“ verwenden. Ansonsten? Ich weiß es nicht, ich bin so schlecht mit Namen, es fällt mir nicht ein. Aber ein sonniges Gemüt.

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