Lesart
Markus Lüpertz* 1941

zwitschernd vor kraft
als vogel sonderbar
die dreibeinigkeit des absonderlichen
den buckel des unverstandenen
den alles verstehenden verstand des falsch liebenden verliebten
springmesser gleich
glasklar in einsicht
trübe vor ewigkeit
wusst ich es immer
mein genie

 

Sonderbarer Vogel

Das Gedicht habe ich als Palimpsest kennengelernt, nämlich in einer Bilderserie der 2007 verstorbenen Maria Elisabeth Prigge, deren umfangreichen Nachlass Thomas Schönemann mit dem Kunstbuchmacher Dennis de Kort 2010 herausgegeben hat.

Prigge hat Lüpertz’ Gedicht mehrfach kopiert und auf vielfältige Art mit Pastellkreiden überzeichnet. Ergebnis sind Zeichen gewordene Konzentrationen in Form abstrakter Kritzeleien, die wie neugierige Zangen auf die interessante Unterlage zugreifen.

Nachdem ich das Gedicht entziffert hatte – nicht einfach, wenn man es mit verkleinerten Abbildungen von Blättern zu tun hat, worauf jeweils andere Lettern mit Farbe künstlerisch unkenntlich gemacht worden sind – war ich mir im ersten Anlauf ganz sicher, es mit einer – sehr gelungenen! – Charakterisierung von Prigges Arbeiten zu tun zu haben und mich packte der Neid.

Wieso der Neid? Weil meine Beschäftigung mit der geschätzten Salzburgerin in meinem laufenden Vorhaben dichterisch erfolgt: – ich schreibe Gedichte über Bilder, dieser Tage zu Prigges faszinierenden Arbeiten –, doch da hatte mir einer die Aufgabe abgenommen und es besser, freier, getroffen. Der Wind in den Segeln fällt mir zusammen.

Doch dann sehe ich genauer nach: Ich bin mir nicht sicher, jedes Wort richtig gelesen zu haben und gebe eine markante Wortfolge in die Suchmaschine ein. Tatsächlich: Sofort liefert sie einen Artikel aus der „Zeit“ mit Lüpertz’ Text, doch leicht abweichend: „zwitschernd vor kraft / als vogel sonderbar / die dreibeinigkeit des absonderlichen / den buckel des unverstandenen / den alles verstehenden verstand des falsch liebenden verliebten / springmesser gleich / glasklar in einsieht / trübe vor ewigkeit / wußt’ ich es immer – mein gerne.“

Ich lese nach, was Markus Lüpertz – der mir in meinem neugierigen Leben nie nahe gekommen ist – ausmacht und mir wird klar, dass die „Zeit“ falsch zitieren muss, denn sein Lieblingsbegriff ist – was er sich selbst heißt – das „Genie“ und bestimmt kein bescheidenes „gerne“.

Aus dem Beleg geht hervor, dass sich das Gedicht am Ende des Lüpertz-Kataloges zu dessen Kölner Ausstellung 1979 befindet. Es kann also nicht Prigges Bilder beschreiben: Ihre die Zusammenhänge fassen wollenden Begreifzangen und oft dreimal geschwänzelten oder halbinselnden Bilder stammen aus den 1990ern und liegen in ihrer erhaltenen Gesamtheit in dem schön gemachten Katalog aus der Salzburger Edition Artbook vor, den ich zum Studium ihrer Arbeiten verwende.

Die Künstlerin, die schon mit 58 Jahren gestorben ist, wird erst in den 1980ern intensiv zu malen begonnen haben; also kann sich der selbst hinaus posaunte Platzhirsch der Malerei, Lüpertz, 1979 schwerlich zu ihrem Lebenswerk geäußert haben. Feines Gespür für das Wesen anderer passt nicht zu seinem Gehabe. Die 1949 als Maria Elisabeth Plank in Bischofshofen geborene Prigge war außerdem anfangs Landschaftsmalerin, wohingegen Lüpertz’ Gedicht ihr zeichnerisches Werk meint, wie mir vorkam.

Freilich wird die am liebsten in der Einsamkeit karg-schwarzer Vulkaninseln wie Fuerteventura und Island arbeitende Prigge den maßlos lauten Dandy und Malerfürsten gekannt, ja später sogar persönlich kennen gelernt haben, als er 1983 an der Salzburger Sommerakademie gelehrt hat, während sie am Salzburg College Radierung unterrichtete.

Offenbar geht es in „zwitschernd vor kraft“ um eine Selbstauskunft Lüpertz’. Bei allem, was sich über den niemals um ein Spektakel verlegenen Düsseldorfer Kunstuni-Rektor – zur Entstehung des vorliegenden Gedichts war er erst in Karlsruhe – in Wikipedia rasch heranlesen lässt, ist dieses eben auch zu Prigge passende Gedicht sehr erstaunlich; gegensätzlicher können Künstler nicht sein. Auf der einen Seite der Ähren-und-Stahlhelm-Großflächen-Maler und Skulptor gigantischer Pappmachéheroen, der sich, ein stefan george der Monumentalkunst, selbst zu zelebrieren pflegt, auf der anderen Seite minimalistisch Prigge, deren vertiefte Kritzelblätter wirken, weil sie einem in die Augen sehen: bei ihr fühlt man sich zu einer Debatte eingeladen.

Es gilt meine bisherige Auffassung des Gedichts komplett auszuradieren und neu verstehen beginnen: Nicht hätte die Zeichnerin hier Zeilen, die sie betreffen, in zärtlichen Abreibungen mit weicher Ölkreide bekräftigt, sondern sich mit einem komplett anderen Künstler, acht Jahre älter als sie, beschäftigt. Es findet hier eine Auseinandersetzung statt, über die sich nur Mutmaßungen anstellen lassen. Auf jeden Fall soll bei Prigges Überkritzeln nicht verschwinden, als hätte Arnulf Rainer eifersüchtig große Meister mit schwarzem Edding überschmiert, sondern geachtet werden, gewürdigt, umkreist, befragt, eingenommen, in die Brille gebracht, die ein Bildrahmen gibt.

In Prigges Serie von 1992/93 „Überzeichnungen eines Lüpertz-Zitats“ gibt es freilich auch Arbeiten, die die Unterlage überwunden zu haben scheinen, fröhliche Behauptungen der Emanzipation von dem, was da steht und einbezogen werden will – gemäß der Aufgabenstellung; immerhin hat die Künstlerin Lüpertz’ Worte stapelweise vom Kopierer ausstoßen lassen, bevor sie darüber gearbeitet hat.

Aber zurück zum Gedicht, an das heranzugehen ich mir Lüpertz als Unbescholtenen vornehme, d.h. bevor ich mich mit seinem Werk auseinandersetze. (Seine Polterposen werden mich ärgern; auch nur ein Otto Muehl – halt mit getrimmtem Bart...)

Trotz aller Vorbehalte gegen seinen Botschafter: das Gedicht ist sympathisch! Lüpertz stellt sich vielleicht als Kraftlackel dar, doch weiß, dass es ein „zwitschern“ ist, die Existenz eines kleinen Vogels, eines unscheinbaren wahrscheinlich, doch lebendig und gefräßig, dem er seine „kraft“ verdankt. Künstlerische Potenz, heißt das, sei starke Lebensfreude, Neugier vielleicht, Durchhaltevermögen.

Freilich: So ein Vogel werde in der Öffentlichkeit als „sonderbar“ angesehen. Allzuoft kleiden sich Künstler – um aufzufallen, aus Not oder schlicht unbekümmerter Modeverachtung – geradezu vogelscheuchenhaft, bis man sie als nicht ganz ernst zu nehmende bunte Vögel bezeichnet; wenngleich Lüpertz selbst immer maßbeschneidert, mit elegantem Stecktüchlein und parfümiert auftritt.

Das Epitheton „sonderbar“ wird in der nächsten Zeile zur Artbezeichnung „absonderlich“ gesteigert. Sonderbar ist jemand, der ein wenig aus dem Rahmen fällt, ein komischer Vogel. „Absonderlich“ liest sich schon bedrohlicher: In Sonderanstalten sperrt man Menschen, von denen man nicht weiß, wohin mit ihnen; Sonderkommandos pflegen mit ihrer Beseitigung betreut zu werden... Man sondert Menschen ab, bevor man sie beseitigt – oder sie – Sonderlinge und spinnerte Künstler – sondern sich selbst ab, weil sie nichts mit der Mehrheit der Mitbürger am Hut haben wollen, sich als etwas Besonderes empfinden; was man ihnen übel nimmt, sie für arrogant und hochnäsig hält.

Erst vom Ende des Gedichts – d.h. grammatischen Gefüges – lässt sich verstehen, dass der Dichter hier sein Selbstverständnis d.h. Alter Ego, das „genie“, beschreibt: Wir sprechen von der Einschätzung des Künstlers, was ihm seine Begabung bedeute: Kräftig wäre dieses Genie wie die Flügelschläge eines tüchtigen Spatzen, freilich ein seltsamer Kerl, „absonderlich“, als hätte er drei Beine.

Man denkt an Auswüchse der Natur wie Nutztiere mit zu vielen Gliedmaßen, aber auch unheimliche Gestalten wie einen mit Schweif (neben Pferdehuf) als drittes Bein ausgestatteten Teufel bzw. sein Vorbild Dionys selbst, bei dem zu den Bocksbeinen auch die Potenz gehört, das erigierte dritte Bein des Mannes, der diesen zurück ins Animalische entmenschlichen möchte. (Lüpertz pflegte seine Nietzsche-Affinität in einer Phase „dithyrambischer“ Malerei zu Ehren besagten Herrenmann-Gottes.) Pragmatisch betrachtet haben Menschen, Vieh und nützliche Dinge zwei- oder vierbeinig zu sein, sonst wackeln sie oder bringen die Ordnung zum Wackeln: Lüpertz spricht mit der „dreibeinigkeit“ das nicht einordenbare Bedrohliche an, das Künstlerisches ausmacht.
Das männlich-schöne, futuristischerweise rennradgestählte Genie Markus Lüpertz outet hier den Makel des Künstlers, lässt seinen „buckel“ sehen, eine Verwachsenheit in der Anlage oder eine gewachsene Last. Man nimmt, woran man schleppt, auf den Buckel. (Lüpertz ist zum Katholizismus konvertiert, er hat in Demut vor dem Licht in Kirchen Glasfenster gestaltet: Kreuzträger Jesus von Nazareth steht ihm mit seinem „buckel“ als Identifikationsfigur nahe und damit alle, die an einem „buckel“ zu tragen haben. Protestanten pflegen die Selbst- weil Vernunftbehauptung, Katholiken bekennen sich dazu, dass jeder ein Kreuz zu tragen habe, um Erlösung zu erlangen: Wenn ein erwachsener Mann das Religionsbekenntnis wechselt, ist das ein ernst zu nehmendes Statement.)

Doch – Moment: Möglicherweise lässt sich, wie im folgenden Satz drangehängt wird, damit auch der Pferdefuß beschreiben, den Unverstandenheit für den Künstler haben kann. Als Buckel – Behinderung, Last – kann man auch sehen, dass Liebhaber, selbst im übertragenen Sinn, so lange sie verliebt sind, alles zu verstehen meinen. Eine solche Liebe wollen Künstler nicht: Sie wäre nicht fruchtbar für ihre Arbeit, wenn auch schmeichelhaft und die Not der Einsamkeit stillend. Eine überschüttende Liebe per se bringt nicht weiter, eher hält sie auf.

Nur Anerkennung dessen, worum der Künstler sich bemüht, führt voran. Mentoren spenden ein derartiges Verständnis bewusst, Musen unbewusst: Künstler wollen gefördert werden, nicht gehätschelt und gelobt. Anstatt sie „falsch “, seien sie „richtig“ unterstützt: mit Freiheit, Arbeitsmöglichkeiten und Aufgaben.

Eine weitere „falsche liebe“ ist die Selbstliebe: Nachdem ihm etwas gelungen ist, gerät der Künstler allzu leicht ins Schwelgen – was seine Haupteigenschaft: „glasklar in einsicht“ beeinträchtigen könnte. Diese Zweischneidigkeit, die zum Genie-Sein in Lüpertz’ Augen dazugehört, nennt der Dichter einem „springmesser gleich“.

Springmesser trugen die Halbstarken seiner Jugend in der Tasche, um Rivalen hineinlaufen zu lassen oder es wurde dank seiner Mechanik fieserweise erst im letzten Moment einer Messerstecherei gezückt bzw. aus dem Schaft gefahren.

Die Kunst ist ein gefährliches Instrument. Wo sie – zur Verteidigung, um Rivalen unschädlich zu machen – als Waffe benutzt wird, wurde schon verloren. Man sagt ja vom Verstand, er solle scharf wie ein Messer sein; „glasklar“ will ihn der Dichter – doch „in einsicht“, d.h. verstehend, zusammenbringend; nicht gezückt rechthaberisch. Der Künstler nutze sein Werkzeug nicht als Rowdy – letzten Endes sticht ihn ins eigene Fleisch, wo er seine Widersacher hineinlaufen lassen wollte.

Gefährlich ist aber bereits das „glas“ der Einsicht. Auch an Hellsichtigkeit kann sich schneiden, wer über sie verfügt. Wer klar sieht, dem muss der Blick „trüb“ werden; einerseits anbetrachts der Unbelehrbarkeit der Menschen, andererseits – ein seit der Barockzeit wacher Gedanke – bei Berücksichtigung der Vergänglichkeit von allem Schönen, Gelungenen. Lüpertz wird „trübe vor ewigkeit“, schon allein deshalb, weil noch so gelungene Lösungen oder gelöste Aufgaben im Vergleich mit der „ewigkeit“ blass und trüb aussehen. Man könnte darüber verzweifeln, dass nichts von Dauer ist.

Und so, wie jeder Indianer mit: „Hugh, ich habe gesprochen!“, oder Juden und Christen mit: „Amen!“ am Schluss einer Rede das Gesagte bekräftigen – derartige Floskeln hat jede Kultur im Sprachrepertoire – endet Lüpertz mit: „wusst ich es immer / mein genie“!
Zu guter Letzt frappiert er noch damit, dass wir nicht Publikum, sondern Zaungäste seines Gesprächs waren: als sich hier herausstellt, dass die Worte nicht an uns gerichtet, sondern Selbstgespräch mit dem anderen Ego, dem „genie“ des Künstlers gewesen sind.

Doch vielleicht wollte Maria Elisabeth Prigge eben darauf hinaus: Man – ist man/frau Künstler, ganz gleich wer – weiß es „immer“, worauf es ankommt; wobei „wissen“ eine Haltung ist, die sich aus Talent und Verstand, aus Erfahrung mit (notwendiger) Einsamkeit und (trügerischem) Erfolg speist.

Weiterführende Links:
Maria Elisabeth Prigge

Maria Elisabeth Prigge starb am 26. März 2007. Die österreichische Künstlerin wurde 58 Jahre alt. Das vorliegende Buch dokumentiert den Nachlass ihres druckgrafischen Werks. Zeitlich verortet sich dieses zwischen den späten 1980er’n und den frühen 2000er Jahren. M. E. Prigge's malerisches und zeichnerisches Werk wird in einer eigenen Publikation umfassend dargestellt. Mehr

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