Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Stolz und Schweigen

Hamburg

Bekanntlich beginnt Tolstois großer Romanepos Anna Karenina mit dem Satz: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

Auf Taiye Selasis Roman Diese Dinge geschehen nicht einfach so hingegen, würde eher der Satz zutreffen: Alle unglücklichen Familien sind auf ihre eigene Art und Weise glücklich.

Selten wurde eine düstere Familiengeschichte mit so viel Leichtigkeit, Farbigkeit und Chuzpe geschrieben. Selten findet man literarische Figuren, die in ihrem Scheitern und Schmerz so würdevoll und unsentimental geschildert werden.

Kweku Sai, ein Ausnahme-Chirurg stirbt an einem Sonntagmorgen vor Sonnenaufgang an einem Herzinfarkt in seiner Heimat Ghana. Der war er einst entflohen, um gleich tausenden anderen begabten aber mittellosen Afrikanern im Zuge des sogenannten brain drain in den siebziger Jahren im Westen ein besseres und aussichtsreicheres Leben zu beginnen. So groß die Verheißung ist, so groß ist auch der Druck, der auf ihm und seiner nigerianischen Frau Fola lastet, es hier auch zu schaffen. Zu beweisen, gleichwertig zur gehobenen amerikanischen Mittelschicht dazugehören zu dürfen. Und obwohl alles vielversprechend beginnt, die vier Kinder, ebenfalls hochbegabt, Jura, Medizin und Kunst an Elite-Universitäten studieren – das Gefühl der Nichtzugehörigkeit, des existenziellen Ungenügens bleibt und wird, weil es durch nichts Äußeres beseitigt werden kann zum Stolperstein.

Kweku Sai, bis dahin ein erfolgreicher Arzt, wird genötigt eine Patientin zu operieren, deren Leben nicht mehr zu retten ist und daraufhin wegen eines angeblichen Kunstfehlers gekündigt. Aus Scham über diese Niederlage, aus Scham, die vermeintlichen Anforderungen nicht erfüllt zu haben, verlässt Kweku seine Familie wortlos und bringt damit die Tragödie ins Rollen, die die gesamte Familie zerreißen und über die Kontinente hinweg verstreuen wird. Erst mit seinem Tod finden die Protagonisten wieder zusammen und zur Aussprache ihres Kummers.

Der nun alleinerziehenden Mutter Fola bleibt nichts anderes übrig als die Zwillinge Kehinde und Taiwo zu ihrem kriminellen Halbbruder nach Ghana zu schicken, wo sie Opfer eines Missbrauchs werden. Die jüngste Tochter Sadie, die nicht weiß wohin mit sich, entwickelt eine Bulimie. Olu, der Älteste, glaubt sich durch kühle Reserviertheit vor allen Verletzungen schützen zu können.

Auch wenn man zunächst glaubt, die Ursache für das Familienunglück in diesem oder jenem Ereignis zu erblicken, es diesem oder jenem Protagonisten in die Schuhe schieben zu können, so erkennt man letztendlich, dass es das Schweigen und der Stolz der einzelnen Familienmitglieder ist, von denen sich keiner eine Blöße geben will, die alle voneinander trennen.

Es herrscht ein fast abergläubischer Zweifel am Sprechen, als brächte es Unglück, sowohl das Schlimme als auch das Schöne beim Namen herbeizurufen:

„Wenn man vor etwas steht, was fragil und perfekt ist, in einer Welt, die hässlich und erdrückend und grausam ist, dann lautet die korrekte Verhaltensregel: Gib ihm keinen Namen. Tu so, als existiert es nicht.“

Taiye Selasi gelingt es die Sprachlosigkeit ihrer Protagonisten in einer zackigen und zugleich poetischen Prosa darzustellen, in der das Fühlen und das Sprechen oft auf die Natur und das Übernatürliche ausgelagert sind: Die außergewöhnlich schönen Zwillinge Kehinde und Taiwo können die Gedanken des jeweils anderen hören. Fola, die hellfühlige Mutter, tastet die verschiedenen Bereiche ihres Bauches ab, wenn sie wissen will, wie es ihren Kindern geht.

Dennoch harrt am Ende die wirkliche Erlösung aus der Schmerzstarre einzig im Sprechen mit Worten.

Taiye Selasi hat den Roman geschickt polyzentrisch aufgebaut. In Rückblenden erzählen die einzelnen Familienmitglieder ihre Unglücksgeschichte aus ihrer Sicht und erst zum Schluss fügen sich die Puzzleteile zum Ganzen zusammen, wird verständlich, woher die einzelnen Protagonisten ihre zum Teil merkwürdigen Angewohnheiten haben. Erst wenn alle sich ausgesprochen haben, versteht auch der Leser, was und warum es schief gegangen ist, obwohl alle nur ihr Bestes für einander gegeben haben. Auch wenn der Roman dann in einem fast kitschigen „alles verstehen heißt alles verzeihen“ gipfelt, ist dieses happy end glaubwürdig, unsentimental und man gönnt es den Protagonisten.

Diese Dinge geschehen nicht einfach so ist der Debütroman von Taiye Selasi.  Bekannt wurde die in London geborene Autorin ghanaischer Abstammung für ihre Prägung des Begriffs Afroplitan, der eine neue Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln bezeichnet. Eine Generation die, wie die Autorin in Yale und Oxford studiert, in New York, Rom und Ghana zu Hause ist und afrikanische folkloristische Traditionen und Bräuche mühelos mit westlicher Kultur und Philosophie verbinden kann.

Es geht in dem Roman zwar auch um Schwarz und Weiß, aber nichts darin ist Schwarz und Weiß. Schwarz hat ebenso unendlich viele Schattierungen wie Weiß und die Übergänge sind fließend. Unglück ist unabhängig von Rasse. Schön sein ist für Taiwo genauso ein Fluch, der zu Vereinsamung führt, wie für ihre Schwester Sadie die Hässlichkeit. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Und einschüchtern müssen nur die, die völlig machtlos aufgewachsen sind.

Taiye Selasi
Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Übersetzung:
Adelheid Zöfel
S.Fischer
2013 · 21,99 Euro
ISBN:
978-3-10-072525-7

Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge