Es war einmal in Amerika
DuMont legt den Roman „Der Mann im grauen Flanell“ aus dem Jahr 1955 neu auf. Sloan Wilson unterläuft die Erwartungen des Lesers.
Zu Beginn der Handlung reibt man sich verblüfft die Augen: Ist dieser Tom Rath, der täglich mit dem Zug von Connecticut zur Arbeit nach New York pendelt, wirklich eine literarische Figur aus den Fünfzigern? Ähneln seine Probleme und Ansprüche nicht stark denen der heutigen Mittelschicht? Tom und seine Frau Betsy haben Angst vor einem sozialen Abstieg. Das alte Haus ist zu klein, die drei Kinder sollten auf eine Privatschule, ein neuer Wagen wäre fällig und so weiter. Auch Betsys Ansatz ein Stück vom Kuchen abzubekommen, ist durchaus modern. Sie macht Pläne mit einem geerbten Haus, von dem überhaupt nicht sicher ist, wie viel es wert ist: „ich wette, wir könnten das alte Kutschenhaus für zwanzigtausend herrichten. Dann hätten wir einen Profit von zwanzigtausend. Damit könnten wir ein anderes Haus bauen und auch das mit Profit verkaufen. So könnten wir eine ganze Siedlung schaffen…“
Wegen finanzieller Aufstiegsmöglichkeiten nimmt Tom einen Job an, der ihn langweilt. Dass dabei das Familienleben viel zu kurz kommt und er glaubt, sich seinem Chef gegenüber ständig verbiegen zu müssen, nimmt er hin.
„…ich bin nur ein Mann in einem grauen Flanellanzug. Ich muss darauf achten, dass mein Anzug immer gut gebügelt ist, denn ich bin ein sehr anständiger junger Mann.“
Als Tom sich selbst mit diesen Sätzen versichert, nur die Gegenwart und sonst nichts zähle, kennt der Leser den Protagonisten allerdings bereits als Fallschirmspringer des Zweiten Weltkriegs, der seine Traumata im zivilen Leben nicht los wird. Unbedeutende Anlässe genügen, um ihn in die Vergangenheit zurückkehren zu lassen. Fünfzehn Männer hat er in Europa und Japan getötet, darunter aus Versehen einen Freund. Jetzt will er vergessen, denn der Krieg sei eine abgetrennte Welt gewesen, „in der das, was jetzt wahr ist, nicht wahr war, in der ‘Du sollst nicht töten‘ ….nichts bedeutet, rein gar nichts, denn jetzt ist die Zeit, eheliche Kinder großzuziehen und Geld zu verdienen, sich ordentlich zu kleiden und nett zu seiner Frau zu sein…“
Als er für den Chef des Medienkonzerns United Broadcasting Corporation rund um die Uhr zur Verfügung stehen muss, weil dieser Workaholic eine Rede absurderweise dreißigmal umgeschrieben haben möchte, wird er immer unzufriedener. Da ist außerdem noch die Sache mit Maria, seiner Geliebten aus Kriegszeiten im fernen Rom. Er erfährt, dass er mit ihr einen Sohn hat und dass es ihnen finanziell nicht gut geht.
Er möchte sie unterstützen, aber wie soll er das Betsy beichten?
Dass die Ehe nicht besonders glücklich ist, beschreibt Wilson schon auf der ersten Seite anhand eines Risses an der Wand in Form eines Fragezeichens. Dorthin hatte Tom wutentbrannt eine vierzig Dollar teure Kristallvase geworfen, die Betsy trotz der finanziellen Schwierigkeiten der fünfköpfigen Familie gekauft hatte. Dieses Fragezeichen schwebt als Bild über der gesamten Handlung des Romans. Die beiden Eheleute haben vor dem Krieg sehr jung geheiratet und wissen nichts voneinander. Der Krieg hat Tom verändert und er merkt nicht, dass hinter dem stets optimistischen Ton der tapferen Betsy ebenfalls die Verzweiflung lauert. Er trinkt viel, raucht ständig, fühlt sich unter Erfolgsdruck. „Vielleicht bin ich ja deshalb immer so angespannt, dachte er – ich muss immer die Fassade aufrechterhalten.“
Zunehmend erwartet man eine Katastrophe, aber dann gibt eine überraschende Wendung. Es beginnt damit, dass Betsy ihm vorwirft, seinem Chef aus lauter Opportunismus nicht zu sagen, dass er dessen Rede schlecht findet. „Es ist mir gleich was du ihm sagst, aber mir gefällt nicht, dass aus dir so ein billiger, zynischer Jasager wird und dass du so selbstzufrieden und analytisch darüber sprichst. So bist du nie gewesen.“
Tom entschließt sich, ehrlich zu sein und nun staunt der Leser aufs Neue. Alles wendet sich zum Guten. Tom bekommt eine Stelle mit geregelten Arbeitszeiten, die Kinder eine gute Schule, ein freundlicher Immobilienhändler hilft ihnen, ihre Erbschaft richtig anzulegen und Betsy findet es richtig, dass er Maria monatlich hundert Dollar schickt.
„Am Zustand der Welt kann ich nichts ändern, aber mein Leben kann ich in Ordnung bringen.“ Und dies ist, wie Jonathan Franzen in einem Nachwort schreibt, die eigentliche Aussage des Romans. Der „Mann im grauen Flanell“ ist im Amerikanischen zu einer Redewendung geworden. Mit Gregory Peck schon 1956 verfilmt (in you tube in ganzer Länge zu sehen), spiegelt er unterhaltsam und realistisch erzählt den Zeitgeist der Fünfziger Jahre wider. Nur die Anständigkeit des Einzelnen, so das Credo, kann die Wunden des Krieges auslöschen und die Gesellschaft weiterbringen kann.
Für Franzen sind die Fünfziger ein „Ausblick auf die darauffolgenden Sechziger. Schließlich vermachten die Fünfziger den Sechzigern ihren Idealismus und ihre Wut.“
Heute erscheint uns das Happy End dieses Bestsellers wie ein Werbespot. Aber vielleicht gibt es noch eine andere Lesart: Ehrlichkeit als Utopie.
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