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Kritik

Ich gegen die Welt, oder zumindest nicht mit ihr.

Hamburg

Nun, ganz so unbekannt wie in manchen Feuilletons immer behauptet wird, ist Siegfried Kracauer dann doch nicht. Vor allem die einflussreiche Studie Von Caligari zu Hitler: Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947) dürfte den meisten Geisteswissenschaftlern auch heute noch ein Begriff sein. Und wenn nicht, dann ist es höchste Zeit einen Intellektuellen wiederzuentdecken, der seiner Zeit in so mancher Hinsicht weit voraus war.

Siegfried Kracauer wurde 1889 in Frankfurt/Main geboren und studierte auf Wunsch seiner Eltern, die ihn vor einer „brotlosen Kunst“ bewahren wollten, zunächst Architektur. 1914 schloss er das Studium mit der Promotion ab. Fortan widmete sich Kracauer jedoch vermehrt der Schriftstellerei und Philosophie, wie es schon vor dem Studium sein Wunsch war. Als Redakteur der Frankfurter Zeitung wurde er in den 1920er Jahren schnell zu einem der bedeutendsten Feuilletonisten seiner Zeit. Nach dem Reichstagsbrand 1933 floh der Jude Kracauer erst ins französische, später ins amerikanische Exil. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Kracauer nicht wieder nach Deutschland zurück, was unter anderem daran lag, dass er keine Einladung zur Rückkehr an ein wissenschaftliches Institut bekam, wie es etwa bei Theodor W. Adorno der Fall war. Er starb im Jahr 1966 in New York City.

Als Journalist, Soziologe, Filmwissenschaftler und Geschichtsphilosoph erfuhr Kracauer vor allem in den USA, aber auch in Europa eine breite Rezeption in der akademischen Welt. Nicht nur aufgrund der Vielfalt seiner Betätigungsfelder ist eine eindeutige Zuordnung Kracauers zu einer akademischen Disziplin, Theorie oder Strömung schwierig. Wegen seiner engen Freundschaft mit Adorno wurde er meist mit der Frankfurter Schule assoziiert. Kracauer bewegte sich mit seinem Werk jedoch stets außerhalb festgesetzter Grenzen oder in sich geschlossener Theorien. Sein multiperspektivisches Wirklichkeitsverständnis, dass er selbst als „Mosaik“ bezeichnete, kennzeichnet ihn gegenüber so manchem Akademiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Freigeist im wahrsten Sinne des Wortes.

Wurde und wird er mit seinen wissenschaftlichen Werken durchaus bis heute wahrgenommen, so ist es vor allem der Schriftsteller Kracauer, der dauerhaft abwesend scheint und ins Gedächtnis gerufen werden muss. Vor allem mit der Neuauflage von Ginster (Suhrkamp) und dem Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch“, bei dem der 1928 erschienene Roman im Frühjahr 2013 im Mittelpunkt der Mainmetropole stand, wurde dafür der Grundstein gelegt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entwickelte sich sogar eine kleine Debatte zwischen Andreas Platthaus, Jürgen Kaube und Lorenz Jäger um die Deutungsperspektiven des Textes.

Was aber macht den Roman bis heute so attraktiv? Die Handlung kann es auf jeden Fall nicht sein, denn auf den 340 Seiten passiert im Grunde recht wenig. Der Leser begleitet den Protagonisten Ginster zwischen den Jahren 1914 und 1918 erst als Student in München, dann als Architekt in F., schließlich als Soldat in K. und wieder als Architekt, diesmal aber in der Stadt Q. Und immer dreht sich die Welt dabei um den Krieg und um Ginster herum – oder besser: an ihm vorbei. Denn Ginster ist ein Phlegmatiker, wie es ihn in der neueren deutschen Literatur wohl kein zweites Mal gibt. Um nicht zum Militär eingezogen zu werden, geht er von einer ärztlichen Untersuchung zur nächsten; den Attesten folgen Rückstellungsschreiben, den Einberufungsbefehlen Reklamationen seiner Arbeitgeber. So drückt sich Ginster, der der Kriegsbegeisterung seiner Zeit skeptisch gegenüber steht, lange Zeit erfolgreich, bis ihn 1917 schließlich doch der Gestellungsbefehl ereilt.

Ginster, von ihm selbst geschrieben, wie der Untertitel betont, ist in verschiedener Hinsicht ein Spiel mit den Erwartungen des Lesers. Schon mit dem Titel beginnt dieses Spiel, denn „Ginster“ war Ende der 1920er nur noch ein Pseudopseudonym, hinter dem zumindest die Abonnenten der Frankfurter Zeitung ebenso einfach wie eindeutig Kracauer identifizieren konnten, da dieser bereits früher einige Artikel mit diesem Namen zeichnete. Dennoch sind Autor und Figur keineswegs identisch, auch wenn die durchaus ähnlichen Lebenswege diese Vermutung nahe legen. Doch anders als Ginster hatte Kracauer zu Beginn des Ersten Weltkrieges durchaus etwas für die Kriegsbegeisterung vieler seiner Zeitgenossen übrig.

Ginster gehört jedoch nicht eigentlich in die Reihe der Weltkriegsromane der 1920er Jahre. Zwischen den Polen Ernst Jünger und Erich Maria Remarque lässt sich Kracauers Roman nicht verorten. Das liegt vor allem daran, dass sein Protagonist sich nicht eindeutig für oder gegen den Krieg positioniert. Ginsters Skepsis gegenüber dem Militär ist nicht pazifistisch begründet. Vielmehr ist es eine radikal individualistische Weltsicht, die Ginster an so ziemlich allem zweifeln lässt, was man gemeinhin als gesellschaftlichen Konsens bezeichnen kann. Vor allem der aufflammende Patriotismus, der mit seinen Fahnen nur die Aussicht versperre, widert Ginster an. „Seit rechts im Osten ein Stück Land vom Gegner besetzt worden ist, jammern sie, als gehöre es ihnen privat. Früher haben sie sich um das Stück Land gar nicht gekümmert. Ich kann doch keine Gefühle für etwas aufbringen, das ich nicht kenne.“

Und so stolpert Ginster vorwärts durch eine vom Krieg geprägte Gesellschaft, die er nicht versteht und der er nicht angehören möchte, bis er schließlich eingezogen wird. Doch seine Zeit beim Militär ist kurz und sinnlos. Dauerndes Exerzieren und unzählige Übungen mit Kanonen und Karabinern veranlassen Ginster zu der Vermutung: „Die Übungen dienten gar nicht dem Krieg, sondern der ganze Krieg war ein Vorwand für die Übungen.“ Aufgrund eines weiteren Attests wird Ginster schließlich in den Innendienst zurückgestellt, wo er bis Kriegsende „gegen die Feinde Kartoffeln schält“.

Schon von den Zeitgenossen wurde Kracauers (Anti-)Held als literarische Antwort auf Charlie Chaplin und Buster Keaton gefeiert. Dabei besticht der Roman weniger durch Slapstickeinlagen als vielmehr durch die subjektive Perspektive eines jungen Mannes, der von der Masse der Gesellschaft angewidert ist, jedoch nicht in Lage und auch nicht willens ist, etwas dagegen zu unternehmen. Dieser phlegmatische Individualismus zieht natürlich einige urkomische Situationen nach sich, vermittelt in seinem Kern jedoch das bedrückende Gefühl ohnmächtiger Orientierungslosigkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Dieser Eindruck macht Ginster auch über 80 Jahre nach seinem Erscheinen zu einem hochaktuellen Roman mit einem starken Identifikationspotential für den gegenwärtigen Leser.

Siegfried Kracauer
Ginster
Suhrkamp
2013 · 341 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42353-0

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