Informationsflut unter Null
Roman Ehrlichs so erstaunlicher wie rätselhafter Debütroman „Das kalte Jahr“ beginnt in einer Welt, die wir kennen: Ein Bürokomplex, Monitore, Topfpflanzen, das Surren von Computerlüftungen, Menschen mit Handys am Ohr.
Doch schon nach anderthalb Seiten entreißt uns der Autor dieser vertrauten Umgebung und katapultiert uns hinein in eine trostlose Eiswüste. Der namenlose Ich-Erzähler hat die Stadt verlassen und wandert nach Norden. Warum, bleibt unklar. Auch für den Dauerwinter gibt es zunächst keine Erklärung. Klar ist lediglich, dass der Erzähler sein Elternhaus erreichen will, das in einem kleinen Dorf am Meer steht, abgeschnitten vom Rest des Landes durch ein aufgegebenes, munitionsverseuchtes Militärgebiet. Es ist die Rede von Grenzwächtern und Soldaten, die einst hier stationiert waren. Die zeitliche und politische Einordnung bleibt vage. Doch gerade dieses Ungenaue, das Fehlen größerer Sinnzusammenhänge, hält die Bedrohung lebendig. Zwischen den Zeilen steht immer wieder die Frage nach der Authentizität des Gesehenen, Gehörten und Erinnerten. Selbst die Meeresbrandung, dem Erzähler eigentlich vertraut seit frühester Kindheit, erscheint ihm plötzlich falsch, „wie eine schlechte Digitalaufnahme dessen, was ich hier früher gehört zu haben glaubte“.
Auch in seinem Elternhaus hat eine Verschiebung stattgefunden: Seine Eltern sind verschwunden; dafür lebt ein kleiner Junge namens Richard in seinem ehemaligen Kinderzimmer und bastelt dort an einem mysteriösen Projekt. Wie das gesamte Dorf scheint Richard völlig in sich gekehrt, in eine Art Kälteschlaf verfallen und ohne Wunsch nach Kontakt zur Außenwelt. Der Erzähler richtet sich im Wohnzimmer auf der Couch ein und regelt den Haushalt. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sucht er sich Arbeit in einem kleinen Elektrofachgeschäft. Dort muss er stundenlang durch die Programme zappen und Mitschnitte anfertigen, die am nächsten Tag auf Videokassetten an die Dorfbewohner ohne Fernsehempfang geliefert werden.
Die offensichtlichen Fragen (Wer ist dieser Richard? Was ist mit meinen Eltern geschehen?) streifen lediglich am Anfang sein Bewusstsein, um dann einem schlafwandlerischen Hinnehmen der Situation zu weichen. Mehr und mehr stellt sich das Gefühl ein, einer David-Lynch-artigen Traumlogik zu folgen. Auch wenn sich „Das kalte Jahr“ allen gängigen Erzählkonventionen entzieht, ist der Roman ein in sich stimmiges, hochkonzentriert gebautes Gefüge, in dem jeder Satz, jedes Wort einen Sinn hat. Bis zum Ende hält Ehrlich die manchmal kaum erträgliche Spannung aufrecht, die entsteht, wenn sich, „in einem Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachsein gefangen“, Bewusstes und Unterbewusstes vermischen. Und nicht nur die Ebenen menschlicher Wahrnehmung verschmelzen, auch Dokumentation und Fiktion fließen ineinander. Um einen Bezug zur Außenwelt herzustellen, beginnt der Protagonist dem kleinen Jungen Geschichten zu erzählen, zunächst aus der Zeitung, später dann leicht verfremdete historische Anekdoten: von einem Vulkanausbruch auf einer indonesischen Insel im Jahr 1815, dem Haymarket-Massaker, dem Großbrand, der 1871 Chicago zerstörte, dem Aufstieg des Architekten Frank Lloyd Wright. Zunächst erscheinen diese Geschichten zusammenhanglos. Einen roten Faden bildet einzig der Kreislauf von Zerstörung und Wiederaufbau. Doch liegt dem Autor wohl ohnehin mehr an der Wirkung dieser Einsprengsel: Wer kein Geschichts-Crack ist oder sehr gewissenhaft googelt, wird für immer im Unklaren über den Wahrheitsgehalt dieser Anekdoten bleiben. Ehrlich setzt uns Fakten in den Kopf, die vielleicht gar keine sind, einfach um zu sehen, wie diese dort ein Eigenleben entwickeln. Darüber hinaus durchsetzt er seinen Roman – ähnlich der Montagetechnik Alexander Kluges – mit kryptischen Schwarz-Weiß-Bildern, einige mit Quellenangaben versehen, andere ungenannten Ursprungs. Automatisch schlägt unser Hirn Brücken zwischen Text und Bild, sucht nach Sinnzusammenhängen. Auch der Ich-Erzähler beginnt seine Umwelt fotografisch festzuhalten. In der Einsamkeit des eingeschneiten Dorfs hat er jedoch keine Möglichkeit, diese Fotos zu entwickeln. „Ich versuchte nicht zu verstehen, was ich sah, vertagte das Verstehen auf eine andere Zeit in der Zukunft, wenn das Archiv vor mir liegen würde zur Betrachtung aus der Distanz.“ Dies ist zugleich eine hilfreiche Leseanleitung, mit der man sich dem rätselhaften Romangefüge nähern kann.
In dem Moment, als der Ich-Erzähler Richards Werkstücke als „Gebilde ohne erkennbaren Zweck oder Formwillen“ entlarvt, als „eine einzige Verschwendung von Zeit und Material", nimmt Ehrlich die potentielle Enttäuschung seiner Leserschaft vorweg und schwächt sie zugleich ab. Denn wer auf solchen Metaebenen operiert, hat definitiv etwas zu sagen – über bloße Sprachspielereien hinaus.
Ehrlich treibt die Welt, in der wir leben, auf die Spitze, indem er sie in eine postapokalyptische Extremsituation verlagert. Der absurde Job des Ich-Erzählers, andere Menschen mit einer bis zur Unkenntlichkeit fragmentierten TV-Realität zu beliefern, führt uns die Informationsflut vor, die unsere Sinne per Timeline, Live-Ticker und Twitter im Sekundentakt erreicht. Nicht selten führt die Kontextlosigkeit dieser Informationsschnipsel zu Missverständnissen – „ob sie bei einem Trümmerhaufen gleich sagen konnten, ob es sich um einen Krieg handelte oder um Abriss und Wiederaufbau“. Letztendlich jedoch, so die Message, spielt es keine Rolle, ob Werbung oder Nachrichten, Fakten oder Nonsens unser Bewusstsein erreichen. Was zählt, ist die Herrschaft der Gleichzeitigkeit – zuungunsten komplexerer Sinnzusammenhänge.
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