Anhaltende (RE)Konstruktion
Unter dem Titel Die da ist im Verlag Jung und Jung in diesem Sommer ein Band mit ausgewählten Gedichten von Ursula Krechel erschienen. Eine Rekonstruktion der Autorin, könnte man meinen, wenn so etwas denn möglich ist, oder zumindest die Rekonstruktion einer Autorin aus einem umfangreichen Werk. Aber dieser Band bietet weit mehr als das.
Beim ersten Hineinblättern stach mir sofort ein Text ins Auge, was an meinem spezifischen Blick liegen mag, der Felix Philipp Ingold gewidmet ist, und der die Situation des Begräbnisses des Tschuwaschischen Dichters Gennadij Aigi zum Ausgangspunkt hat. Aigi starb 2006 in Moskau.
Mit dem Blick allein heißt der Text und endet mit folgenden Strophen:
Leichnam in Tücher gehüllt
den Leichnam gebettet
weißer als weiß, blendend
tschuwaschisch gewaschenund die das Tuch halten
im einträchtigen Gleichgewicht
niedergelegt, das Bild schneit ein
verblasst nichtso haben sie es erzählt.
Dieser Text hatte für mich eine besondere Bedeutung, weil er mir für einen Moment Leseerlebnisse der letzten zwanzig, dreißig Jahre zurückholte und gleichzeitig die Weite eines lyrischen Kosmos eröffnete, der auch einen Blick in die Zeit darstellt, als wolle die Zeit sich in einem Text und in wenigen Worten bündeln.
Ich ginge aber fehl, von diesem Gedicht zu behaupten, es stehe modellhaft für Krechels Schaffen. Überhaupt scheint mir der Begriff des Modells an der Vielfalt von Krechels Produktion vorbei zu zielen, denn es finden sich in diesem Band auch Texte wie dieser:
Anstrengungsgedicht
ich werde jetzt mein schweres Tun
gleich einem Huhn werd ich
jetzt mein schweres Tun gleich
wie ein Ei in keinem Wicht
geruht zu ruhn, nur im Huhn
wie ein Ei werd ich ruhn
ich werde jetzt mein schweres Tun
Die Autorin hat die Auswahl selbst besorgt. Krechel, die 1947 in Trier geboren wurde und heute in Berlin lebt, ist eine Ausnahmeerscheinung unter den derzeit produzierenden Dichterinnen und Dichtern. Zuerst schon einmal dadurch, dass ihr Werk so ziemlich das ganze Möglichkeitsspektrum der Literatur abdeckt, durch alle Genres läuft, vom Gedicht über Langgedicht, Essay, dramatischen Entwurf bis hin zum Roman.
Ihre beiden großen Romane Shanghai fern von wo und Landgericht, für den sie im letzten Jahr zu Recht den Deutschen Buchpreis erhielt, sorgten für einige Beachtung. Gemeinsam ist ihnen eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Politik auf einem enormen sprachlichen Niveau. Und diese Themen ziehen sich auch durch ihre Gedichte.
Die nun vorliegende Auswahl bestärkt diese Wahrnehmung, auch wenn ihr Werk sich beileibe nicht auf diese Themenkomplexe reduzieren lässt, wie es im zweiten oben zitierten Gedicht bereits anklingt.
So schreibt Krechel in ihrem Nachwort:
Es geht nicht um Bruchstücke einer Konfession (auch einer großen Behauptung), es geht um Entitäten, die sich anziehen und abstoßen, sich überlagern und miteinander in Kontakt treten. Es geht auch um das Einzelne in luftiger Gestalt, das so einzeln nicht ist, um Brüche, Abbrüche, Gewaltsamkeiten, um Entfernungen und Näherungen, auch um Veränderungen in der Chronologie.
Dementsprechend hat die Autorin ihre Texte zu acht Gruppen geordnet, in denen sich Gedichte aus verschiedenen Zeiten und Werkgruppen befinden, und in denen sie eine eigene innere Bezüglichkeit bilden. Vielfältige Parallelen werden so sichtbar und auch besondere Motivlagen, die sich durch die Zeiten hindurchziehen. Das Werk als Landschaft, wenn man so will, aber mit künstlichen Sichtachsen, das Werk als Park.
Das vielbeschworene Wort vom Gedicht als Kraftfeld wird in diesem Band fühl- und sichtbar. Darüber hinaus wäre festzustellen, dass dieser Band wunderschön gestaltet ist. Den Schutzumschlag ziert die Reproduktion eines Stiches von Claude-Nicolas Ledoux. Eine Insel im Meer, über der das Licht durch die Wolken bricht, und auf der Insel eine Figur, sitzend auf einem Stein unter einem Baum, das Licht anbetend (wie es scheint), das Ganze natürlich im wundervollen Jung und Jung-Format.
Um den Band in einem Rutsch durchzulesen, ist er zu vielfältig und zu umfangreich, aber ich werde ihn in den nächsten Jahren wohl wieder und wieder zur Hand nehmen.
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