Im Winter deines Lebens. Ganz ohne ich
Raufen. Paul Auster erinnert sich, wie das war, damals in der Kindheit. Wie er mit dem muskulösen Vater rang oder mit dem Cousin, wie er sich auf dem Boden wälzte, wie er lief und sprang und kletterte und wie er abends völlig erschöpft sofort einschlief. „Licht aus, Augen zu... und bis morgen.“ Paul Austers Werk ist umfangreich und vielfach preisgekrönt. Der 1947 in der US-amerikanischen Stadt Newark in New Jersey geborene Autor schrieb nicht nur Essayistik und Lyrik, sondern vor allem 16 Romane, mit denen er weltbekannt wurde. Er arbeitete als Regisseur, Kritiker, Übersetzer und Herausgeber, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mit „Winterjournal“, vor kurzem bei Rowohlt erschienen, zieht er einen Teil seiner Lebensbilanz.
Der autobiographische Essay des Schriftstellers ist in diesem Falle ein mehrheitlich auf die sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen gestützter. Eines Mannes, der erkennt, dass sein Körper altert und verfällt und der dies zum Thema seines Buches macht. „Du denkst, das wird dir niemals passieren, das kann dir niemals passieren (...) und dann geht es los.“ Doch bevor es losgeht, gehen wir mit Auster rückwärts und erkunden mit den Sinnen ein ganzes Leben. Wie fühlte sich das an, wenn die Füßchen des Vierjährigen nachts auf die Holzdielen traten? Und dann später, als Heranwachsender, die Entdeckungen der physischen Lüste am Essen, Trinken und vor allem am Rauchen von Zigarillos. Später gab es diese Anfälle plötzlichen Herzrasens eines jungen, sich in Umbrüchen befindlichen Mannes, der nach Brooklyn zog, der Schreibkrisen durchlitt oder große Erfolge feierte, verliebt war oder todunglücklich. Auster erinnert sich an all die Frauen, die er geliebt hat und an all die Wohnungen, in denen er gelebt hat, sich über zu laute Heizungsrohre oder Nachbarn ärgerte. Wie das eben so ist. Auch ein Schriftsteller ist ein Mensch, der „niesen und lachen, gähnen und weinen, rülpsen und husten“ muss. Und der erkennt, dass das Schreiben etwas sehr körperliches ist. „Schreiben beginnt im Körper, es ist die Musik des Körpers.“
An jeder Stelle dieses Textes liest man die Angst vor dem „Winter deines Lebens“ und darf einen Autor betrachten, der sich beinah krankhaft selbst beobachtet, zugleich aber auch das Leben und dessen Wonnen stets erkannte und immer noch schätzt. Austers viel geliebtes Spiel mit Erzählperspektiven findet auch in diesen Text Eingang. Das für Autobiographien übliche Wörtchen „ich“ wird vermieden. Wie glaubwürdig kann das dann eigentlich sein? Indem Auster sich durch die Du-Form ein Gegenüber erschafft, schreibt er von sich selbst weg, schafft Distanz zu seiner Person. Das Du entlässt den Autor in seine literarische Welt. Der Vorteil von diesem Kniff ist natürlich, dass Auster so in einen Dialog mit sich selbst treten kann. Zudem lenkt er den Fokus auf den Leser, führt ihn immer ganz nah bei sich, um ihm viele weise-onkelhafte Lebenstipps ins Ohr zu flüstern. Austers Bilanz, die Ratgeber-Autobiographie: „Um tun zu können, was du tust, musst du gehen.“ Jedoch ohne den pragmatischen Ton des Ratgebers, eher melancholisch und manchmal etwas zu dick aufgetragen. Das klingt dann so schmalzig wie die Pomadenfrisur eines seine Erinnerungen heraufbeschwörenden Großvaters.
Wenn Schriftstellern ihr eigenes Leben zum literarischen Text gerinnt. Oder anders gesagt: Soetwas wie Wahrheit gibt es sowieso nicht. Und wie hört sich das eigentlich an: „Paul Auster, erfolgreicher Schriftsteller, lebte in Paris, hatte zahlreiche Frauen, verheiratet mit einer erfolgreichen Schriftstellerin, zwei Kinder“. Um genau jene Überlagerungen weiß ein Romancier wie Auster und spielt gekonnt damit. Seine Autobiographie berührt, während man gleichzeitig misstrauisch die Braue hebt. Sie ist voller poetischer Impressionen, während man kopfschüttelnd ein wenig mehr Realismus herbeisehnt. Am liebsten würde man den Mann anrufen und fragen, wie das nun wirklich, also wirklich wirklich war. Doch der antwortete zum Glück für den Leser mit dem stets ein wenig weltabgewandten Blick des Schriftstellers: „Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist. Schließlich verrinnt die Zeit.“ In Austers nächstem Clou wird es um eine Reise durch seinen Kopf gehen. „Report from the Interior“ erscheint im November und stellt einen weiteren Teil seiner Autobiographie dar.
Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben