Wo liegt das Paradies, in Osnabrück oder in Montreal?
Das Buch lag auf einmal in meinem Briefkasten, ich hatte es nicht bestellt, aber es ließ sich nicht wegschicken. Wobei wir bei dem Thema „Zauberei“ wären, einem der Motive, aus denen Jo Lendle seinen vierten Roman entwickelt. Einen Roman, in dem die Geschichte von Adam, Eva und Lilith andersherum erzählt wird. Gibt es eine Möglichkeit nach der Vertreibung aus dem Paradies wieder in dessen unwissende Wildheit zurückzukehren? Dieser Frage muss Lambert sich schließlich stellen. Denn letztendlich, auch wenn er mit allerlei faulen Tricks die Entscheidung heraus zögern kann, irgendwann muss er eine Wahl treffen.
Der Reihe nach liest sich das folgendermaßen: Lambert, fliegt nach dem Tod seines Vaters kurzentschlossen zu einer Zaubererkonferenz in Montreal. Im Flugzeug lernt er Viola mit ihrer Tochter Sascha kennen. Viola arbeitet bei der Flugsicherheit, und als das Flugzeug in Turbulenzen gerät, übernachten die drei gemeinsam in einem Hotelzimmer.
Dass Lambert trotz dieses unplanmäßigen Aufenthalts noch in letzter Minute seine Zauberkunststücke vorführen kann, verdankt er Fe, die ihn mit ihrem Pferdeanhänger zunächst anfährt, und dann zu seinem Bestimmungsort chauffiert. Und mit Fe beginnt die eigentlich Geschichte, die Frage, was wir Liebe nennen, und wohin Lambert eigentlich gehört, in die Wildnis Kanadas, wo Fe ihre Przewaski Pferde auswildern will, oder in die Beschaulichkeit Osnabrücks, wo Lambert mit Andrea ein harmonisches Leben führt. Und wo der Unterschied liegt, zwischen Wunder und Zauberei. Während Lambert beobachtet wie Mond und Sonne gleichzeitig am Himmel stehen, versucht er sich über den Unterschied zwischen Wundern und Zauberei klar zu werden. „Das war es, was Lambert ein Wunder nannte ¨C wenn weit entfernte Dinge, auf erstaunliche Weise übereinstimmten. Himmelskörper zum Beispiel.“
Fe erscheint zwar nicht zu Lamberts Aufführung, aber wenig später, während die Zauberer aus den unterschiedlichsten Nationen zusammensitzen und lauwarmen Sake trinken, ist sie wieder da und bestimmt von diesem Zeitpunkt an das Geschehen des Romans und die Gedanken Lamberts. Die Zeit, die den beiden miteinander bleibt, ist viel zu kurz, aber das Schicksal meint es gut mit Lambert, am Flughafen erfährt er, dass seine Maschine überbucht ist, und gewinnt so vierundzwanzig Stunden „Niemandsland aus Zeit“. Zeit, in der möglich wird, wonach Lambert sich sehnt, gerade weil es verboten ist. Mit der Rückblende zu Andrea, zu der ersten Begegnung mit ihr, kommt der biblische Sündenfall in den Roman. Andrea, Restauratorin von Beruf, arbeitete gerade an der Wiederherstellung einer Wandmalerei, die den Sündenfall zum Gegenstand hat, als Lambert in der Sakristei, in der sie ihrer Arbeit nachgeht, Unterschlupf vor einem Unwetter sucht.
Da das Bibelmotiv nun schon einmal da ist, kann man es auch weiter ausreizen, mag sich Jo Lendle gedacht haben, und lässt Lambert nach der mit Fe verbrachten Nacht, sämtlicher Habseligkeiten beraubt, allein und nackt im Hotelzimmer erwachen. Spätestens jetzt wird die Geschichte abenteuerlich. Lambert jagt Fe, mit einer Gardine bekleidet nach, wird im Bus, für den er kein Fahrgeld hat, kurzerhand als Ersatzfahrkartenverkäufer eingestellt und mit einer Uniform versehen, und blickt sich schließlich, als er Fe endlich gefunden hat, selbst ins Gesicht. Ein Teil seines Ichs hat sich abgespalten und tritt ihm körperlich gegenüber. Der Showdown naht, zwei Männer, eine Frau und zwei Pferde sind eindeutig zu viel und das Ganze reduziert sich im Laufe der nächsten Seiten dann auch. So dass Lambert eine Entscheidung treffen kann, ob er sich selbst mit Fe in Kanada auswildert, oder ob er zu der anderen „richtigen Frau“ nach Osnabrück zurückkehrt.
In Lendles Roman gibt es keinen Zufall und keinen Trick, der nicht sorgfältig vorbereitet wäre, alles führt zu etwas anderem, die Motive, einschließlich der Berufe der Figuren sind gut überlegt, es gibt Anspielungen und Querverweise, die Liebesgeschichte wird durch die kulturellen Differenzen angereichert, die Biochemie der Liebe trifft auf das unerklärlich und immer wieder als Wunder empfundene Chaos, das sie anrichtet, kurz: handwerklich gibt es rein gar nichts auszusetzen an diesem Buch. Und trotzdem hat es mich nicht gepackt. Vielleicht weil es keinen Moment des Zweifels gegeben zu haben scheint, wohin die Geschichte geht. Weil das Erzählen an keiner Stelle Gefahr lief, den wohlüberlegten Konstruktionsplan des Romans zu sprengen.
„Jedes Buch hat, wie jeder Schriftsteller, eine schwierige, nicht zu umgehende Stelle. Und er muss sich entschließen, diesen Fehler im Buch zu lassen, damit es ein wahres, nicht gelogenes Buch bleibt, “ schreibt Marguerite Duras.
In „Was wir Liebe nennen“ habe ich keinen einzigen Fehler gefunden. Er hat mir gefehlt.
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