Von der Wiederkehr des Verdrängten
Was macht ein 1997 erstveröffentlichter Roman auf der Hotlist, die nach Selbstaussage die 20 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen kürt? Ganz einfach: Es hat 16 Jahre gedauert, bis sich jemand der Übersetzung von Das Casting annahm. Eine lange Zeit angesichts des Erfolgs, welcher der Roman nach sich zog. Ōdishon, wie er in der japanischen Umschreibung nach dem englischen Wort Audition heißt, war nicht nur ein Bestseller, sondern wurde 1999 vom japanischen enfant terrible Takashi Miike verfilmt und von der Kritik heftig gefeiert. Kaum jemand sonst hätte sich der literarischen Vorlage annehmen können, ausgenommen vielleicht der Autor selbst.
Denn Ryū Murakami legt einerseits mit einem ähnlichen Ehrgeiz wie sein berühmter Namensvetter Haruki Murakami einen Roman nach dem nächsten vor, hat sich andererseits aber auch mehrfach als Regisseur versucht. Seinen Debütroman Kagirinaku Tōmei ni Chikai Blue(Blaue Linien auf transparenter Haut. Tokio unterm Strich) verfilmte er Ende der siebziger Jahre eigenhändig, seinen internationalen Durchbruch gelang ihm mit dem Psychothriller Tōkyō Decadence Anfang der Neunziger.
Die ebenso minimalistische wie brutale Bildsprache aus seinen Filmen, die in Tōkyō Decadence ironisch von der getragenen Musik des Starpianisten Ryūichi Sakamoto konterkariert wird, prägt auch die Romane Murakamis. Das mag ein Grund dafür sein, dass Das Casting erst der fünfte auf Deutsch vorliegende Roman aus dem umfassenden œuvre Murakamis ist: Der Teufel steckt bei Murakami buchstäblich im Detail. Ins Deutsche lässt sich der karge Stil nur schwerlich übertragen, ohne ungewollt holprig zu klingen. Leopold Feldmairs und Motoko Yajins gemeinsame Übersetzung des Texts liest sich jedoch leider so: Holprig.
Die krude Mischung aus steifer Schnörkellosigkeit und gelegentlichen legeren Ausbrüchen, die eher befremdend denn belebend wirken, stört aber nicht unbedingt. Vielmehr noch legt sie sich passend auf das Geschehen, denn Protagonist Shigeharu Aoyama nimmt sich an Verstocktheit nichts mit dem Ton, in dem seine Geschichte erzählt wird.
Sieben Jahre nach dem Tod seiner Frau lässt sich der Dokumentarfilmer von seinem Sohn Shigehiko und seinem Freund und Kollegen Yoshikawa dazu überreden, erneut zu heiraten. Yoshikawa kommt auf eine bizarre Idee: Ein Casting soll ausgerufen werden. Für einen Film, der niemals gedreht werden soll. Hauptsache, es melden sich viele gebildete oder zumindest musisch bewanderte Frauen im richtigen Alter – was im Falle des Mittvierzigers bedeutet, dass sie mindestens unter Dreißig sein sollten. Gutes Aussehen versteht sich von selbst. Schon in der Vorrunde, noch bevor sie die ersten Frauen persönlich gecastet haben, entscheidet sich Aoyama für Asami Yamasaki. Ihr Foto gefällt ihm und auch die Geschichte, die sie in dem Bewerbungsschreiben von sich selbst erzählt.
»Er merkte es selbst nicht, aber es war der typisch männliche Blick«, heißt es, als Aoyama in einer Bar die anwesenden Hostessen taxiert. Dieser männliche Blick, der male gaze, er soll Aoyama zum Verhängnis werden. Männer wie er und Yoshikawa kommen nicht nur mit der sich im stetigen Wandel befindlichen japanischen Gesellschaft gegen Ende der neunziger Jahre kaum zurecht und wünschen sich in vermeintlich bessere Zeiten zurück, ihr Frauenbild hätte ebenfalls ein Update verdient. An einer Stelle sinniert Aoyama sogar darüber, dass die Castings von denen von ihm betreuten Werbefilmen einer »Sklavenauktion« glichen. »Natürlich waren sie keine Sklavinnen, aber Tatsache war, dass sie allesamt im Badeanzug auftraten, um sich zu verkaufen. Kaufen und Verkaufen sind grundlegende Handlungsformen jeder Gesellschaft, und was gekauft oder verkauft wird, ist eine Ware«, räsoniert er.
Die zurückhaltende Yamasaki kommt in dieser zynischen modernen Welt wie gerufen für Aoyama. Sie ist schüchtern, hat sich von einem nebulösen Trauma in ihrer Jugend mithilfe von Balletunterricht selbst kuriert und sieht zudem natürlich noch bezaubernd aus. »Es war, als berührte die Seele oder der Geist dieser jungen Frau von innen her ihre Haut«, schwärmt Aoyama innerlich beim ersten Treffen. Ein unbeflecktes Phantasma, das sich Aoyama anbietet – oder das er sich selbst zusammenreimt aus dem wenigen, was Yamasaki ihm und seinem männlichen Blick preisgibt. Er verfällt der jungen Frau zunehmend, von Treffen zu Treffen. Alle Ungereimtheiten, Warnsignale oder von Freunden geäußerten Bedenken ignoriert er.
Als sich die unheilvollen Anzeichen verdichten, ist es bereits zu spät. Das Trauma aus Yamasakis Jugend bricht sich in zerstörerischer Wut Bahn. Aus dem Unschulds- wird ein Racheengel, es kommt zur unvermeidlichen Katastrophe. Eine Figur überlebt den Roman nicht, Gerechtigkeit lässt sich in dem actiongeladenen Ende vergeblich suchen. Wie so häufig in Murakamis Schaffen aber ist der Horror kein Ausbruch von individuellem Wahn und irrationalem Hass, sondern führt subtil auf tief in der japanischen Gesellschaft verankerte Probleme zurück.
Audition zeigt den zynischsten Moralisten seiner Zeit in Höchstform. Murakami seziert den strukturellen und Alltagssexismus einer reaktionären Gesellschaft. Er ist eben kein reiner Horror- oder Thrillerautor, sondern einer der scharfsinnigsten und bösartigsten Kritiker der japanischen Gesellschaft. Das destruktive Böse, das seine Romane durchzieht, markiert nur die Wiederkehr des aus dem kollektiven Unbewussten erfolgslos Verdrängten. In Das Casting wird dies wieder mehr als deutlich. Schade, dass es trotzdem nicht für einen ersten Platz auf der diesjährigen Hotlist gereicht hat.
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