Bye, bye, Posthistorik!
Pop, das schrieb Martin Büsser bereits 2004 in On The Wild Side sei »posthistorisch« geworden. »Den ultimativen neuen Trend gibt es nicht mehr. […] Alles ist gleichermaßen vorhanden und zitierbar. Allein auf die Kombination und den Bezug zur Gegenwart kommt es an. […] Grabenkämpfe zwischen den Generationen, Subkulturen und Stilen gehören der Vergangenheit an. Musikgeschichte fungiert inzwischen als Setzbaukasten. Die Steinchen lassen sich auf immer neue Art montieren – doch das Wissen um die Geschichte will erarbeitet sein.« Fast ein Jahrzehnt später gilt dieser Claim immer noch, mehr als zuvor vielleicht. Und gleichzeitig ist viel Falsches an ihm.
Zehn Jahre später sind die Digital Natives, die inmitten des referenzreichen Hypertext des Internets mit seinen digitalen Archiven – Filesharing-Börsen, YouTube, etc. – und Kurationsmedien – Facebook, tumblr, etc. – hineinwuchsen, Mitte Zwanzig und bestimmen selbst die Mikrotrends, die im Social Web aufflammen und nach zwei, drei Jahren langsam verglühen. Witchhouse, Chillwave, Seapunk – das sind mehr Mems denn Musikstile, vereint durch ein ästhetisches Interesse, nicht aber durch ein Selbstverständnis, das von den Menschen dahinter geteilt würde. Popmusik ist posthistorisch, kommt ohne Grabenkämpfe aus, es muss sich aber keine Geschichte mehr erarbeiten.
Geschichte, Gegenwart und Zukunft sind im Reich des nahezu unendlichen, jederzeit aufrufbaren Archivs zu ästhetischen Parameter geworden. Pop hat sich an seiner Geschichte sattgefressen und die Kinder der Revolution knabbern sich jetzt mehr oder weniger wahllos von innen durch den Mageninhalt. Pop ist heute weder Traditionen verpflichtet noch an Orte gebunden. Popkultur findet im Post-Internet statt, ist zeit- und damit geschichtslos geworden. Posthistorisch ist Pop(kultur) nach Büssers Worten nur mehr im Sinne der ständigen (Re-)Kombination, die mittlerweile als Kuration ausgelegt wird.
Umso interessanter, dass eine Vielzahl von Büchern versucht, Geschichte und Tradition ganzer Stile und Bewegungen aufzuarbeiten und an regionale Gegebenheiten zu koppeln. Ein anschaulicher Guide, wie sich das anstellen lässt, stammt von Ulrich Gutmaire Illustration von bestimmten Denkmustern ist Wolfgang Müller) gelungen und Felix Denk hat gemeinsam mit Sven von Thülen) den die oral history als Erzählform gewählt und die befragt, die dabei waren. Ganz im Sinne Jürgen Teipels. Es wirkt, als wollten diese Autoren wieder für klar Verhältnisse schaffen, eine Schneise in die latente Unübersichtlichkeit schlagen und aus der Vergangenheit heraus die Spuren ins verknäulte Hier und Jetzt verfolgen, kurz: Heute durch Gestern verstehen.
Dass es dabei meistens um Berlin und vor allem dessen virile Techno-Szene und -Geschichte geht, ist nur logisch: Damit ging die internationale, später auch digitale Vernetzung der Popkultur schließlich erst so richtig los. Anhand der Entwicklung des Technos lassen sich die technokratischen (Un-)Ordnungsverhältnisse der Populärkultur anno 2013 vielleicht ansatzweise beleuchten. Am scharfsinnigsten erklärt sie jedoch Heinrich Deisl in seinem Buch Im Puls der Nacht. Darin geht es vor allem um Wien und dessen Subkultur in den Jahren 1955 bis 1976, das aber nur vordergründig. Ein gutes Drittel der brillanten Arbeit nämlich widmet sich dem Gewordensein von Popkultur und, nicht minder wichtig: Poprezeption. Denn die neue Situation fordert auch ein neues ein neues Schreiben über Popkultur heraus.
Laut Popjournalist Didi Neidhardt, der das Vorwort zu Im Puls der Nacht liefert, geht es Deisl unter anderem »um eine Spurensuche in Sachen ‚cooles Wissen‘.« Das deckt sich mit dem, was Martin Büsser schrieb. Auch ihm ging es darum, um die Geschichte und Codes der Popkultur zu wissen und sie richtig anzuwenden. Nur war kurz nach der Jahrtausendwende noch nicht abzusehen, dass der Setzbaukasten dermaßen große Ausmaße annehmen, ein Eigenleben entwickeln würde.
Es ist aber nicht grundlegend falsch von Deisl, diesen Zugang zu wählen. Rückblickend lassen sich thematische Schwerpunkte wie auch stilistische Strömungen sondieren und beschreiben. »Die derzeitige Situation« jedoch, so Deisl, »ist vielerorts durch ein ›Zuviel‹ gekennzeichnet.« Vielerorts, das heißt eigentlich überall. Sein Buch, das erste einer Trilogie, die sich bis zur Wiener Subkultur der Gegenwart durchschlagen will, befasst sich aber mit einer Zeit, in der das Internet höchstens ein schwammig-feuchter Traum einiger Science-Fiction-AutorInnen war. Deisl konzentriert sich hauptsächlich auf die Zeitspanne von 1955 bis 1976, dem Jahr der Besetzung des Clubs Arena.
Deisl leugnet die „Krise des coolen Wissens“ nicht, sondern verortet sie anderswo: Im professionalisierten Musikjournalismus, der sich auf ein professionalisiertes Fantum, sprich: Fanzines zurückführen lässt. Was damals Fanzines waren, sind heute Blogs. In beiden Fällen verringert sich die kritische Distanz, bricht beizeiten sogar völlig weg. Das evoziert eine gewisse No Future-Mentalität: Das Monopol ist vorbei, Mitsprache und –bestimmung lassen die alten Hierarchien einbrechen. Musikjournalistisches Chaos bricht an. So scheint es zumindest.
Analog dazu wurden die gleichzeitig elitären wie dissidenten Subkulturen von der Popkultur einverleibt. Und die wiederum »zerbrach an der neoliberalen Eingemeindung.« »Pop wurde vom distinktiven Dagegensein zum omnipräsenten Mitmachenmüssen«, so Deisls ernüchterndes Urteil. Pop hat die eigene Blase und damit auch die eigenen Vertriebsstrukturen verlassen beziehungsweise ist aufgeweicht: Großunternehmen wie Apple geben im wahrsten Sinne des Wortes den Ton an, die Kreativindustrie verwaltet das, was früher in den Händen der Labels und des Musikjournalismus‘ lag. Nüchtern konstatiert Deisl darüber hinaus auch das Wegbrechen von lokal orientierter Förderung: Die kleine Band von nebenan ist nicht mehr rentabel genug, sie lässt sich eben nicht als Werbefläche vermarkten.
Auf diese mehr als umfassende Einleitung – gut 60 Seiten nehmen Deisls verortende Überlegungen ein – folgt ein kurzer, thematisch orientierter Überblick über die Anfänge der Popkultur in Wien »im Schnelldurchlauf«. Deisl beginnt sinnigerweise viel früher, als der Untertitel des Buches es ankündigt: Im 19. Jahrhundert. Als Wien noch die unumgängliche Adresse für Musik war und deren Nachwirkungen auch heute noch zu spüren sind. Wenige denken an Wolfgang Ambros, Falco, Kruder & Dorfmeister oder garChristian Fennesz, ist die Rede von Wiener Musik – da findet doch schließlich der Opernball statt, dort lebten Beethoven und Mozart, komponierten schier unzählige Sträusse Musik. Österreichische Popkultur jedoch konnte sich erst in späten 80ern und 90er Jahren zum Exportprodukt entwickeln und hat seitdem wenig ins Ausland gestreut.
Deisl taucht aber tief in die Materie ein und vollzieht die Wirkungsmechanismen von Subversion und Dissidenz nach, die sich durch die Kabarettschule in die populäre Musik eingeschlichen haben, weist dem Café seinen Platz in der kulturindustriellen Dialektik zu und analysiert die historischen Grundbedingungen der Formierung von Wiener Popkultur durch die Besatzung, die Jazz und andere internationale Musik- und Lebensstile sowie die diversen in die Hauptstadt brachten.
Die ambivalenten Resultate von Filmen wie Der dritte Mann (in Wien angesiedelt, mit Wiener Soundtrack) und The Sound Of Music (der von einer Salzburger Musikerfamilie erzählt, die in die USA emigriert), die gegenseitige Befruchtung von Wiener Gruppe und Sub- beziehungsweise Popkultur, gender und queer politics sind ihm eher ein Anliegen als ein rein chronologischer Abriss. Er spricht von Helmut Qualtinger, Novak’s Kapelle, aber auch Hermann Nitsch und H. C. Artmann, den sogenannten Schnulzenerlass anno 1968 im Ö3, der die Öffnung des Senders hin zu anglophoner Musik bewirkte. Die erschlagende Menge an Informationen und Referenzen verdichtet Deisl zu einer kompakten, smarten Analyse, die einige verblüffende Fakten und Gedanken zutage fördert.
Was Deisl mit klugem Blick seziert, veranschaulicht Wienpop auf unterhaltsame Weise. Die oral history, eine Gemeinschaftsarbeit von Walter Gröbchen, Thomas Miessgang, Florian Obkircher und Gerhard Stöger, lässt 130 ProtagonistInnen erzählen. Darüber, wie der Rock’n’Roll zaghaft in Wien rezipiert wurde, von schwitzigen Jazz-Kellern und den ersten Beat-Versuchen, von aktionistisch eingefärbten Musikkollektiven, Austropop in und außerhalb Wiens und avantgardischen Pop-Programmen. Und von transatlantischer Hip-Hop-Berichterstattung und darüber, wie Techno dann in Wien aufschlug – und weiterstreute. Eingerahmt und aufgehübscht wird der großformatige Band von und mit vielen Albumcovern und Fotos. Vier Jahrzehnte Wienpop in den schonungslosen Worten ihrer MacherInnen. Der Band endet mit der Jahrtausendwende, kurz bevor Martin Büsser seine Thesen zum posthistorischen Pop formulierte.
Die von Didi Neidhart in seinem Vorwort zu Deisls Buch formulierte Kritik, oral histories würden »zig Narrative liefern, jedoch selten überprüfbare Wahrheiten« ist zwar nicht von der Hand zu weisen, umso sinnvoller scheint es jedoch, gerade in dem Fall beide Bücher zu konsultieren. Denn was Deisl gegenüber den lebhaften Erzählungen im authentischen Tonfall nicht vermag, das gelingt Wienpop: Die Köpfe hinter den Phänomen werden plastisch, die Auffassungen greifbar. Gespickt mit lustigen Anekdoten, irrwitzigen Geschichten und dem obligatorischen Schmäh weiß Wienpop nicht nur zu unterhalten, sondern ist auch voller interessanter Details und spannender Beobachtungen seitens der oftmals kauzigen Figuren, die aus dem Nähkästchen plaudern.
So entspinnt sich ein Narrativ, das von den beschwerlichen Anfängen der Subkultur, die Willi Resetarits mit den »Urchristen« vergleicht, über ein »popkulturelles Verschworenheitsgefühl«, das Konrad Becker in den 80er Jahren ausmacht bis hin zur euphorischen Aufbruchsstimmung, die von Hip Hop und Techno in die Welt getragen wird, reicht. In Wienpop verdeutlichen sich die alten Strukturen – das Kino brachte den Rock’n’Roll, Punk wurde aus London importiert – und kristallisieren sich langsam die neuen heraus – HipHop-Radiobeiträge wurden in New York aufgenommen, in Wien aber gesendet, Techno und die Wiener Noise-Szene um das Label Mego fanden schon im Internetzeitalter statt. Als „transatlantische[s] Hin und Her“ bezeichnet Neidhart das analog in seinem Vorwort zu Deisls Buch.
So ergänzen sich Im Puls der Nacht und Wienpop nicht nur als historische Aufarbeitung der Musik- beziehungsweise Popgeschichte einer Stadt, die für viele noch ein weißer Fleck auf der Landkarte zu sein scheint. Was Deisl theoretisch aufarbeitet, das wird von den Interviews, die Gröbchen, Miessgang, Obkircher und Stöger in einer wahren Herkulesarbeit gesammelt und collagiert haben, subtil illustriert. Dass der Band mit der Jahrtausendwende endet, ist kein Versäumnis, sondern legt Rechnung ab über die Umstände, in den Pop sich mittlerweile abspielt. Es bleibt zu hoffen, dass Deisl sein engagiertes Projekt fortführt und auch die Macher von Wienpop einen Weg finden, die regionale Szene der Stadt auch im Post-Internet-Zeitalter zu erfassen. Denn auch da ist eine Fortsetzung geplant. Solange heißt es eben: Bye, bye, Posthistorik!
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