Essay

Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Perugia Teil 4
Hamburg

Am sonnigen Vorabend promenieren die Bewohner von Perugia wie überall in Italien in ihrer Hauptstraße, den Corso Vanucci immer auf und ab zwischen dem Domplatz und der Stadtmauer, dort muss man anhalten und weit über die Felder und Hügel sehen, zurück bis zum Duomo, hochgucken, wie die Handwerker zum Feierabend das Gerüst runter klettern, rund herum um den von einer Plastikglocke abgedeckten Fontana Maggiore. Etwas von einer Prozession hat solch ein Corso, und jeder Ort hat seine Flanierzeile dafür.

In Chioggia liefen sie, Katharina und Alfredo, ein Paar unter vielen, Leute sehen, immer hin und her zwischen dem großen Canale und dem Lido. Katharina riss sich los von dem krummen Loddel, wie sie ihn heimlich nennt. Wunders wie schön dünkt er sich, über jede Frau mault er, wie kommt er dazu. Mag sie auch Angst vor ihm haben, ihren Jähzorn hat sie ebenfalls, wie oft hat er sie alle Vorsicht vergessen lassen. Der brach aus ihr raus, als er wieder über eine schöne junge Frau meckerte: "Und du meinst, deinen dicken Bauch nackt zeigen zu können, guck an dir runter, der Nabel blinkt zwischen Hose und Hemd, das sich in der Knopfleiste breitzieht vor Fett, deine Pirelli-Ringe findest du allein so charmant!" Da hat er ins Gesicht geschlagen, fester als der Vater, geblutet hat es, die Lippe rechts ist nun geschwollen. Vor allen Leuten, die sofort weggeguckt haben. Demütigungen werden schlimmer durch Zeugen, werden unvergesslich eingebrannt durch den Schmerz. Ihr Hass auf den Loddel wächst und zieht wieder ein wenig ab vom Hass auf den ehemaligen Geliebten; ob Gefühl wandern könne, von einem Mann zum andern? Ob es einen Wander-Hass gibt? Auch zwingt die Situation zum Vergleichen: wie liebenswert ist Piero neben Alfredo! Wenn der sie vor dem schützen soll, hat sie doch den Bock zum Gärtner gemacht. Und diese Anmaßung, über sie zu verfügen, sie sich anzueignen, der da ausgerechnet sie.

Katharina sieht nicht mehr die Palazzi, kaum noch die promenierenden Personen davor, ist blind vor Hass und Wut. Als ob der Globus unter einem Grauschleier hängt, die Vorstellungskraft im schwarzen Schlamm dümpelt: sie kann keine heiteren Bilder mehr erzeugen. Väter und Töchter, Eltern und Kinder. In neuen Kleidern spazieren sie, Sich­ treffen und Sprechen, Sehen und Gesehen-Werden sind die Rituale des Corso. Das wäre etwas für ihre Mutter gewesen. Stolz hatte Katharinas Mutter im Nachkriegs-Leipzig ihr 'Drei-Mädelhaus' vorgeführt, schön anzuschauen fand sie die drei staksigen Zopfmädchen in hellen Kleidern mit den von Omakleidern abgetrennten Spitzenkragen und Knöpfen. Schon Katharinas eigener Vater hätte "seine Töchter am liebsten in Kartoffelsäcke eingenäht", hatte die Mutter ihre listigen Scherze gemacht, wenn sie ihnen 'in der schlechten Zeit' Kleider genäht hatte; schwer war der Stoff bei irgendwelchen Tauschgeschäften zu beschaffen, anstrengend die Arbeit an der ererbten Nähmaschine mit Fußtrampel-Antrieb. Je älter die Mädchen wurden, umso mehr hatte der 'kritische Journalist' über "die teuren neuen Kleider" gespottet. Sorgen waren es auch. Denn es war gerade, als er die Reportage über "die Bestie von Poldowo" schrieb. Im Dreiländereck waren die letzten drei Jahre zwanzig Mädchenleichen gefunden worden, mal in Polen, mal 'in der Tschechei' und mal in der Oberlausitz; keiner wusste, wie der oder die Mörder die Grenze überschritten. Warum das gleiche Muster?

Warum komme ich mit Gedanken so von Höcksken auf Stöcksken, wie die Norddeutschen sagen? Eines haben sie gemeinsam: Kriminalfälle und negativ sind sie. Sie beobachtet, wie die italienischen Eltern mit ihren Kindern umgehen, und den Söhnen alles durchgehen ließen. Ihnen auf der Nase herumtanzen, Sandro eigentlich auch.  Ob bellissimo Sandro ein verwöhntes Balg war, oder ob die Nachbarin in der ausgebauten Dachwohnung sich als "ahnungsvoller Engel" erwies? Jedenfalls ist auch dieser langmütigsten seiner Babysitterinnen einmal der Geduldsfaden gerissen. Aus Leipzig waren sie wiedergekommen,  Frau Schmid hatte Sandro vier Tage lang betreut. Sie öffnete die Wohnungstür, Geschrei tönte und lautes Miauen, Sandro warf sich Katharina an den Leib und trommelte wild auf sie ein: "Ra-ben-Mut-ter! Du hast mich alleingelassen! Pappa hat mich mitnehmen wollen!" Das wollte der auch. Aber von ihrem Leipzig hätte er dann keinen Meter gesehen, von ihr sowieso nicht, immer nur aus dem Kind einen Affen gemacht und kein Haus ohne das Söhnchen gefilmt. Sandro kletterte sogleich schmeichelnd an Pappa Piero hoch und lugte, ob die beiden Frauen sich auch richtig ärgerten. Sie hatte mit dem Durcheinander genug zu tun, Frau Schmid blieb gelassen und überlegte sehr laut: Auch ein Mafia-Boss muss eine Kindheit haben - so wie die von eurem Bengel, so stell ich sie mir vor."

Was ist gewesen? Ob es Absicht war oder die übliche Art kleiner Kinder, etwas beim Wort zu nehmen: für einige Abendstunden war Frau Schmid bisher immer gut mit dem Kind zurechtgekommen. Wenn sie "von Alt-Frankfott" erzählte, "Hessisch-Babbele" solle sie, über die Gasthäuser ihrer Familie am Römer, "Tante Schmids Märschenschdunde", wünschte sich Sandro. Vergilbte Radierungen und Fotografien hingen rings in ihrer Wohnung, Zinnkrüge und Bembel. Sandro liebte es, sie zu betrachten und ihre Erklärungen zu hören. Vor allem mochte der Junge Erzählen, das machte ihn ruhig, er war "hypermotorisch".

So viele Tage mit dem Kleinen allein, wurde Frau Schmid nicht mehr mit ihm fertig. Die Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld, liebe und wertvolle Andenken waren zerbrochen. Hatte er die Stecknadeln nun in ihren Lieblingskaktus gesteckt, um ihn zu zerstören, oder waren das harmlose kindliche Experimente? Das gleiche fragt sie sich bei der Sache mit Willi, dem weißen Kater. "Er wäscht sich gern", sagen alle."Am saubersten wird's in der Waschmaschine." "Wasch dich mal, putz den Kater mal ab, immer kugelt ihr euch auf dem Fußboden". Hatte die reinliche Frau Schmid geraten. Sandro hatte sie beim Wort genommen, Willi in die Waschtrommel gesetzt. Als Frau Schmid in die Küche kam, redete das Kind auf ihn ein, stellte einen Napf Breckis rein, "falls du Hunger kriegst oder dir langweilisch wird". Das hörte sich eher nach Fürsorge als nach Bosheit an. Sandro heulte, als sie den Kater aus der Waschtrommel nahm und wollte von ihren Erklärungen nichts wissen. Seitdem bin ich zwiespältig, einerseits vergöttere ich ihn immer noch, anderseits mache ich mir Sorgen. Anfangs nur, weil wir ihn verwöhnten, Piero geradezu hysterisch. Von seiner Familie wusste ich nichts. Jetzt kommen die neuen Befürchtungen dazu: die Genen von 'denen da'. Den italienischen Gangstern. Jedenfalls sind sie seit drei Wochen alle aus unserem Frankfurter Haus fort - die Pizzeria leitet der Cousin, falls er das ist: Piero, Sandro und sein langhaariger Kater Willi sollen irgendwo in Italien sein. Und nun bin ich auch hier. Katharina fragt sich, warum Alfredo sie wohl so krampfhaft gerade heute und von dieser Piazza fernhält. Das hat was zu bedeuten. Vielleicht hängt es mit den vielen Menschen zusammen? Am Vorabend, Stunde des Corso, Mädchen und Jungen in modischer Kleidung flanieren und flirten, Mütter mit Kinderwagen zeigen sich gegenseitig ihre Bambini. Eltern, eines links, eines rechts, führen ihre Kinder an den Händen spazieren. Wie sie sie herausputzen, die Mädchen mit Spitzenkragen und runden Hütchen wie winzige Damen. Vor ihr schaukelt ein kleiner Junge zwischen den Armen einer jungen Frau und einer in ihrem Alter, seiner Mutter und Großmutter vielleicht, den braunen Lockenkopf färbt die Abendsonne kastanienrot. Wie Sandro. Sandruccio. Wovon das Herz voll ist, läuft nicht der Mund über, hüten wird sie sich bei diesem miesen Begleiter; er würde das gegen sie verwenden. Doch überall sieht sie den Sohn, sicherlich fata morgana der Sehnsucht. "Du und ein Muttertier", hat sie der Miese verhöhnt. Eigentlich pervers, dass sie gerade der vor dem anderen 'beschützen' soll. Befreien. In welche Gesellschaft ist sie geraten? Mutterliebe, über die Piero niemals gelacht hat. Gar nicht dran denken. Und doch. Nun zappelt der kleine Junge dort vorn, dem Alter nach kann er es sein, die graden Beine sind zu dünn, auch hat ihr Kind keinen rötlichen Ausschlag in der Kniebeuge. Diese Rinne über der Wirbelsäule hoch in die Haare des dünnen Hälschens ist wie bei ihm, und dass er immer in Bewegung sein muss und so gern widerspricht. Den Kopf schüttelt er heftig, schreit no no, nein, nein. Oder redet sie sich das deutsche Wort ein? Keine Zeit zum Grübeln, zugucken: Er stampft mit dem Fuß auf.  Bockig. Reißt sich los, rennt die Treppe hoch, liebevoll sind die beiden Frauen zu ihm, das ist wahr. Rennen zu ihm, fangen ihn ein. Keine schreit, keine schlägt. Rund um den eingerüsteten Brunnen am Domplatz jagt er, lacht und schreit. Rennt dann hoch zum Palazzo dei Priori, dem Rathaus, gerade als eine Hochzeitsgesellschaft aus dem Standesamt kommt; die bei den Frauen rufen von unten. Seinen Namen. Den gibt es wohl häufig hier. Er dreht sich um. Er ist es. Sandro. Steht auf der Treppe, die jüngere Frau fasst ihn liebevoll um, die Schwester des Piero könnte sie dem Gesicht nach sein. Das Kind reckt die Arme: "Mamma Mamma. Ich will zu meiner Mamma." Katharina bahnt sich den Weg durch die Menge, sieht ihn nicht mehr vor lauter Köpfen, herzzerreißend die verzweifelte Stimme, nun sieht sie ihn wieder, in ihre Richtung schaut er, hat er sie gesehen, oder hat er schon oft so gerufen, seit er von ihr fort ist.

Harte Hände reißen sie zurück. "Du versaust mir das Geschäft nicht." Alfredo zischt es durch die gespaltenen Zähne, sie wehrt sich, keiner kommt ihr zur Hilfe, warum nicht. Der ziehende Schmerz um das Kind mengt sich mit Todesangst für sie beide, hell und klar blitzt es ihr durch den Kopf: der Killertyp muss weg von Sandro, bei den Frauen ist das Kind sicherer als bei mir. Erst mal fort. Wie eine Stoffpuppe zieht Alfredo sie durchs Gedränge, und sie lässt sich ziehen, jäh gestürzt in Depression, im  dem Brunnen tief unten zu sitzen im Schlamm, nicht viel mehr als tot. Er muss sie nur im Rücken leicht anschieben, sie tapst vor ihm her, Angst würgt wirklich, sie hustet. Jemand ist nun doch aufmerksam geworden. "Signora ... Dottore", hört sie wie hinter Glas. Alfredo klopft ihr auf den Rücken und hält sie, beugt sie nach vorn, das sieht fürsorglich aus: "Nur ein Hustenanfall. Meine Frau hat Asthma, das Wetter." Sie ist auch noch erleichtert, als er sie auf einen Stuhl vor dem Café am Museum niedersetzt und zwei mal Espresso doppio con Anice bestellt. Es bricht alles zusammen. Eigentlich ist längst alles zusammengebrochen, nun wieder, wie vor fünf Jahren bei Norberts Tod. Die Diagnose von seiner tödlichen Krankheit hatte uns beide überfallen, Tag für Tag war er schwächer geworden. Ich hatte ihn monatelang gepflegt. Die Söhne hatten die Krankenatmosphäre geflohen. Wochenlang war ich fast immer mit einem allein, der nur noch wenige Minuten am Tag wach wurde. Nach seinem Tod hatte ich mich mit ihm begraben gefühlt. Wieder hatte es ein halbes Jahr später, im mittleren Lebensabschnitt, eine unerwartete Wende gegeben, dieses Mal zum Guten. Bloß weg, nur fort. Wie hatte ich nach dem überraschenden Erbe auf einen neuen Anfang in der neuen Stadt gehofft, im Westen noch dazu. Frankfurt, nicht dem an der Oder, sondern am Main. Einige Male noch waren im Jahr 1990 Briefe hin und hergegangen, mehrere Poststempel bezeugten diese Verwirrung.

Wie ein zweites Leben nach dem Tod hatte das angefangen, bald nach dem halbherzigen Umzug erst nur mal so nach Frankfurt in das fremde Haus. Durch Pieros Liebe erst wurde es das eigene Haus, und daraufhin war sie erst ganz in Frankfurt geblieben. Sandro war neun Monate später sowieso neues Leben, sie würde für ihn da sein bis zum seligen Ende. Denkst du, hast du gedacht. Bitteres Ende. Unerwartet und bald. Was werden sie dem Kind erzählt haben? Katharina stürzt den Espresso herunter und den fiesen Anis hinterher. "Na siehst du, dein Maul tut' s ja wieder!" Alfredo scheint wirklich erleichtert zu sein, gutmütig ist der tatsächlich, wenn er sich nicht selber bedroht fühlt, Bösewicht muss anstrengend sein. Na siehst du, das Hirn funktioniert ja wieder! Auch der Galgenhumor. Sie hatte dem Vater von Sandro, Piero, wieder und wieder geschrieben, angerufen: "Strategisch vorgehen, in Güte versuchen", hatte ihr der Anwalt geraten. "Wenn die Angehörigen erst einmal mit den Kindern im Ausland sind, ist es sehr schwer, sie ausfindig zu machen. In Ihrem Fall eigentlich günstig für Sie, dass Sie nicht verheiratet sind."

Was nützt dir alles Recht, hatte Sandro sie schon vorher verlacht. Monatelang sind ihre Briefe für die Katz gewesen. Jemand hat ihr auf den letzten Brief geantwortet, unterschrieben als Piero. Aber er ist es nicht. Italienisch der Brief, der Poststempel verwischt, aber vielleicht heißt das auf dem Balken über der Briefmarke mit dem Gesicht vom Papst Pius 'Ascoli Piceno', irgendein langes Wort, wer kennt die Hunderte kleiner Gemeinden in einem anderen Land. Dass es piccolo Sandro gut geht, behauptet die anonyme Schreiberin nicht nur, sie beweist es auf die Art, wie sie das Kind beschreibt. Katharina ist sicher, dass es eine Frau ist. Ohne Güte ist der Brief nicht; eine der beiden Frauen, die eine Frau wie sie begreifen, sich in ihre Sorgen hineinversetzen kann, könnte es sein. Oder beide. Frauen-Komplott hinter aller Männer Rücken. Oder gar doch mit Pieros Wissen? Der italienische Brief hat sie getröstet. Und doch hat sie sich daraufhin auf den Weg und auf die Suche gemacht. Katharina trinkt den Espresso aus und sieht sich vorsichtig um, der Corso verläuft sich, Abend wird, sie riskiert einen Blick auf Alfredo, ihren Beschützer. Ihr Gefängniswärter ist er wieder geworden. "Geh vor. Und mach keinen Quatsch mehr." Er müsse erkunden, wo Piero sei. "Wenn schon die Familie hier ist, ist er es auch." Er hält sich auf Abstand, das ist gut. Ihr traut er nicht, sie durchschaut er: "Die siehst du nie wieder, längst sind die auf dem Heimweg, wer weiß wohin. Ich krieg es raus. Geh zurück ins Hotel. Ich melde mich dort."

Perugia, eng wie alle Altstädte auf Bergen, hat sein Problem gelöst mit Rolltreppen und Parkplätzen in der Ebene. Am weiten Platz unterhalb einer "Scala mobile" steht das Hotel Rosalba. Katharina duscht, liegt wach auf dem Bett, wartet, wartet, fährt mit der Rolltreppe in die Oberstadt, geht allein durch Perugia, allein ins Ristorante Perugino. Was heißt allein, beobachtet fühlt sie sich. Den ganzen Abend. Innere Monologe, Vorwürfe: In diese Zwickmühle, Katharina, hast du dich selbst gebracht. Mit Piero war es richtig. Dein Leipzig hat er sehen wollen und besichtigt wie du sein Italien. Ins Museum, da gehst du morgen allein. Versuchst abzuschalten. Ach was. Sobald ich einen Vierjährigen sehe, kommt mit der Sehnsucht der Hass. Ich werde langsam verrückt. Nicht mehr allein sein. Nach Norberts Tod hatte ich eine Weile gebraucht, um das Alleinsein zu genießen, jetzt ist es mir leid. Aber immer noch besser als ihre gezwungene Zweisamkeit mit Alfredo, dem Ekel. Mit der Skala mobile morgens allein ins Centrum, in die Galleria Nazionale dell'Umbria, Museo Vanucci, am Corso Vanucci. Vieles ist hier nach dem Bürgernamen von Perugino genannt, dem großen Sohn der Stadt. "Viele seiner Gemälde hängen hier", erzählt ein älterer Herr am Eingang und führt sie ins tertio piano, dritte Stockwerk, die zwei unteren sind Ämter der Stadt Perugia. "Seid ihr teuer!" Das Palazzo-Gemäuer und die Fensterfront außen ist mit Sandstrahlgebläse gereinigt, der breite Palazzo außen und innen für Milliarden Lire restauriert. Achttausend Lire zahlt jeder Eintritt. "Unter Achtzehn und über Sechzig gratuito. Zeigen Sie Ihren Pass." Er sei nicht Greis, sei Künstler und Kunstfreund, sagt der Herr und zahlt. "Unvorstellbar, dass Michelangelo oder Picasso als Rentner gratis in ein Museum gegangen seien!" Er schüttelt lachend den Kopf und sagt das alles in Katharinas Gesicht hinein. Stutzt dann, schweigt, starrt. "Mamma mia, diese Ähnlichkeit!" "Was ist los, was hab ich angestellt?" "Kommen Sie, Signora, ich zeig Ihnen etwas!" Sie ist erhört worden, mit der Einsamkeit ist vorerst ein Ende. Im samtigen Grausilber kleben Teppiche an Stellwänden, daran die Bilder. Drinnen überall Madonnen mit Jesuskindern und draußen wirkliche Mütter mit Bambini. Meint er die? Woher weiß er ... er kann nichts von ihr wissen. "Scusi, Signora." Er nimmt sie zart beim Arm und führt sie an vielen biblischen Szenen und Madonnen vorbei. Hält vor der finster blickenden Madonna des Piero deIla Francesca. "Das sind im Augenblick Sie." Der bannende Blick aus den schmalen schrägen Augen der Madonna kommt ihr bösartig vor. Schierlingsgrün, lauernd. Nicht fromm. Aber womöglich wachend, über das Jesuskind, das viel zu schwer auf ihrem Arm thront. Aber auch der Mann zieht sie in seinen Bann, hat seine Augen abwechselnd auf sie gerichtet und auf das Madonnengesicht. Doch, die Augen gucken so, als sei Hass hinter der sehr hohen Stirn.

"So bösartig gucke ich?" "Nur finster. Vielleicht haben Sie Sorgen." Katharina schweigt, der Mann führt sie weiter. Sie halten vor einer in Augenhöhe angebrachten meterlangen Truhe aus 'Legno die Noce', Walnussholz, für die Stadtdokumente. Der Mann, denkt sie, kann nicht bös sein. Er skizziert die Zunftzeichen der Truhe blitzschnell auf einen Block, Fische für den Fischer, Stiefel für den Schuster, Amboss und Hammer für Schmied, Lamm, Schere, Zirkel, Meißel. "Was gibt es noch für Berufe", fragt er sie, "Hirte, Fleischhauer, Bäcker, Jäger, Bauer". Die für Nahrung Zuständigen will Herr Färber aus Graz wissen. Denn dass er Fleischhauer" sagt, eher die Vokale langzerrt wie "Fleysch", deutet auf Wien. Sie fragt ihn, er stellt sich vor. Wie schön ist ein normales Gespräch. Ganz selbstverständlich vertraut er auf ihr Urteil. Aber er kann doch nichts von ihrem Kunststudium in Leipzig wissen? Kommt er von denen da? Ein Spion? Bleib auf dem Teppich, du wirst immer misstrauischer. Gehörst schon zu deinen Kriminellen. Er guckt besorgt. Signora Lerssling? Sie hat ihm vorhin doch ihren richtigen Namen gesagt, auch das Vertrauen hat seine altangestammten Minuten; zur Verbrecherin bin ich zu lebenslustig, denkt sie sekundenlang, dann wird sie ruhig und folgt ihm. Doktor Färber zeigt ihr im oberen Stock höfische, süßliche Liebesszenen, rosa Fleisch. Vom obersten Stockwerk spähen sie tief in die Schlucht des unteren Geschosses auf die samtigen Stellwände mit ihren Madonnen. "Kommens mit, seien's mein Gast auf einen Schwarzen!"Sie sitzen dann vor dem Café neben dem Museum beim Espresso, betrachten Palazzo-Fronten und Passanten, vis à vis steht ein Zelt mit einer KunstausteIlung. Er fachsimpelt ein bisschen vor sich hin, so hat sie Zeit, sich ein Bild von ihm zu machen. Noch älter als Norbert wird er sein, vielleicht Ende fünfzig, um die Sechzig, feine Haut wie gefaltetes Pergament spannt sich über Wangenknochen und breite hohe Stirn mit einigen Pigmentflecken, den schmalen Mund verdeckt der Schnauzbart gar nicht. Ob er den gefärbt hat, der müsste doch grau sein? Die Augen bannen, an wen erinnern sie? Solche schweren Lider vorgewölbten geäderten Kugeln, schwarze Ringe umkreisen die bernsteingelbbraune Iris. Sie studiert sein Porträt wie vorhin die Gemälde, mehr als dass sie auf seine Vorlesung hinhört, nur dass sie überlegt, ist er nun Künstler oder Wissenschaftler. Oder "Die modernen Künstler in Italien haben es schwer. Wie heute gegen Pisano anbauen, gegen Piero anmalen? Die Meister damals im Trecento haben das Beste ihrer Zeit idealisiert, Dreck und Sklavenarbeit weggelassen, idealisiert Paesaggio, Landscape, Landschaft, malten Enten ohne Mist, Menschen und Bauten ohne Gestank. Denn der war da in den immer größer werdenden Städten! Das Parfum musste erfunden werden! Aber ich rede und rede. Erzählen Sie von sich. Wo kommen Sie her?" "Aus Frankfurt. Am Main." "Aus Frankfurt, am Main, nicht dem an der Oder, soso. Palazzi bei euch in Frankfurt haben heute Commune oder Banca."

Herr Färber verbindet Information mit Witz, und sie lacht gelöst. Wie anders ist das heute als gestern mit Alfredo. Warum nicht einfach Turista sein wie jetzt. Ob sie laut denken, den Mann um Rat fragen soll? Lieber noch nicht. Schon einmal ist sie voreilig gewesen. Der Gauner lässt sich überhaupt Zeit. Das geht doch wohl aus wie das Hornberger Schießen. Noch hat sie keinen Pfennig in barer Münze bezahlt, das mit dem neuen Telefon-Banking per Cash zieht sich hin, "noch nicht ausgereift das System". Aber der harte Vorschuss in Naturalien soll erst recht nicht für die Katz sein, des Klebrigen Gattin spielen und obendrein gute Miene zum miesen Spiel machen zu müssen. Brutal ist er 'dabei' nicht und in seiner Amore ganz einfach, Fantasiemangel kann auch Vorteile haben, freiwillig ist es aber nicht und darum eklig. Vor allem stellt sich dabei der Vergleich mit Pieros findiger Zärtlichkeit und ihrer Zuneigung ein. Wer verdient den Tod mehr? Wer ist Mordopfer, und wer ist Mörder? Sein Geld wird Alfredo ihr abknöpfen. Nicht einmal finden konnte er Piero bisher. Alles ist anders, seit sie Sandro wiedergesehen hat. Sie will nur noch ihn, oder auch nicht, erst mal retten vor solchen wie Alfredo. Ihr dämmert, dass es Schlimmeres gibt für das Kind als die Familie seines Vaters. Ihn zu haben auch ihr Egoismus? Haben, ein Ding ist er nicht. Aber er hat so wie in Todesnot nach Mamma gerufen. Das muss sie erhören. Alptraum von der Treppe die letzte Nacht und bestimmt die nächste und immer und ewig. Rabenmutter-Traum. Herr Färber mit der steirischen Stimme indessen erzählt. Kommen Sie mit? "Komman's mit", sagt er. "Ich fahre weiter auf den Spuren der Renaissanc-Malerei. Zu Unrecht vernachlässigt sind die Meister in den Marken."

"Eh, Pizzabäckerin, da bin ich, haste dich anderweitig umgesehen? Da kann ich dich im Hotellsange anrufen!" Alfredo macht seine alten Rechte geltend. - "Heute Abend im Ristorante Rigo." Dem Anderen, Herrn Färber, gönnt er keinen Blick und kein Wort. Abendessen im Ristorante eines 'Cousins', so sieht der auch aus, gedrungen, Doppelkinn dicht überm Kragen, Schmalztolle. Eine Sterne-Koch und Star-Koch ist Rigo. Monica Witti, Robert Mitchum, Milva, Bette Midler und viele anderen Prominenten haben da gegessen. Deren Fotografien mit Signaturen hängen protzend an den Wänden, das bauscht den Preis auf wie das Selbstgefühl des Kochs. "Wars gutt?" Fragt der Vetter nachher. "Für jedes Korn Salz zuviel eine Lire, das macht es so teuer." Katharina ist alles gleich. "Sale? Troppo? Diese Tedesca ist ja Kennerin! Für die Deutschen haben wir uns doch das Essen verdorben, weil die immer nach dem Salzstreuer schreien. Wo war denn zuviel Salz?" "Doch ja, Rigo, in Francoforto sagen sie, wenn sähr salzig, der Koch ist verliebt. Si,sie, Wirklich troppo - un pocco in den Rognochini, den Kalbsnieren, in den Trippa mit Zitronenraspeln. Die Ravioli di Patate mit Pinoli sind gut. Fiorentina di Manzo mit frittierten gelben Kürbisblüten ausgezeichnet. Squissito."

Ein Kellner rennt herbei und reicht dem Padrone ein Handy. Der reicht es dem Alfredo weiter "Ein freches Maul hat deine deutsche Gattin, Vetter Alfredo, du weißt, wie man ihr das stopft." Auf einmal hat sich die entspannte Atmosphäre aufgeladen. Ganz schnell und halblaut sprechen sie miteinander, gewohnt, von Tedesci nicht verstanden zu werden. Etwas ist während der Gerichtsverhandlung heute schiefgelaufen. Der Padrone geht. Alfredo wendet sich Katharina zu: "Wir müssen weiter. Nach Porto Ascoli, vielleicht auch nach einer kleinen Bucht in der Nähe, dein Sohn soll dort sein. Morgen sehr früh."

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