Essay

Venedig sehen und sterben oder Meine Mutter mordet

Norcia teil 5
Hamburg

"Einen dritten falschen Pass hat Alfredo für beide abgegeben im Nuova Hotel Posta. "Ihre Sterne haben die im Lotto gewonnen oder durch Schieberei", spottet selbst er, der mal wieder verwandt ist mit den Hotelbesitzern. Er befiehlt mich auf unser Zimmer, tuschelt mit der Padrona in sehr schnellem Italienisch, so dass ich kaum etwas verstehe, soll ich auch nicht, im Dialekt der Gegend hier vermutlich. Schließlich sind wir nun auf dem Terrain von Pieros Famiglia angekommen. Aufgeregt hat man uns an der Rezeption empfangen, irgendetwas muss vorgefallen sein. Seit dem letzten Anruf unterwegs, mitten in den Bergen, ist Alfredo voller Schrecken vor irgendeiner Gefahr, und, wie ich weiß, dann immer selbst gefährlich. Schlägt los beim geringsten Anlass.

Von Perugia sind wir durch Umbriens Hügel mit Wein und Zypressen nach Süden gefahren, auf die Sybillinischen Berge zu. Vieles heißt nach den Römern. Das weiß er, erklärt es mir voller Stolz, Italia bella, Italia grande. Unterwegs hat er oft angehalten, mir mal schroff und mal scheißfreundlich geraten, mir ein bisschen die "bellissimo paesaggio" anzusehen; einerseits hat mich seine Liebe zur Landschaft verblüfft, anderseits kann er auch gutmütig sein, wenn er sich nicht bedroht fühlt, wie gesagt. Für seine Zwecke kann Alfredo sogar sensibel sein. Kein Mensch ist jede Stunde des Tages ein Bösewicht und ein Killer. Dass der Anblick seiner italienischen Häuser und Hügel mich beruhigt oder geradezu in eine Euphorie versetzt, hat er längst bemerkt, und dass man mich damit bequem ablenken kann. Wir treiben miteinander ein schlitzohriges Spiel: Benutzen und Belauern. Wenn ich den Kopf nach ihm drehe, winkt er ab, dreh dich um, lass mich. Aus den Augenwinkeln beobachte ich ihn trotz dem: er steht neben dem Auto und quatscht in sein Handy, immer wenn er mich rausschickt in den Regen und die Paesaggio angeblich besonders schön ist. Ich bin ja nicht blöde, immer wenn sein Handtelefon gepiepst hat, folgt bald solch ein Bellavista, sobald er im kurvenreichen Gebirge anhalten kann. Und auch zwischendurch manchmal, wenn ihm etwas durch den Kopf schießt und er pronto pronto anrufen muss. Denn keine Minute kann er warten, keine Anspannung ertragen.

Dabei will er allein sein, ich soll nichts hören. Seine Körperhaltung und Mimik verraten ihn mir aber auch von Weitem. Wie in Venedig beobachte ich, wie das letzte Telefongespräch ihn blitzschnell verändert, ihn aus der lässigen Beinhaltung mit den wippeInden Füßen starr vor Entsetzen werden lässt, das ist bei ihm wörtlich zu nehmen. Ihn immer dann zu fürchten, das hab ich in wenigen Tagen gelernt. Keine schöne Landschaft mehr, ins Auto stößt er mich, hinein und weiter. "Ras nicht so, bei diesen Haarnadel-Kurven." - "Maul halten." - "Willst du uns umbringen?"- "Warum nicht?"
Riesengroße Disteln blühen am Wegrand, lila und blau bis in die Stengel, die Weitsicht ist von Wasserdunstschwaden verstellt, einmal lassen die Felsen den Einblick zu in die Tiefe: unten serpentinenkrummer Bach, oben wie ein Pult abgeschrägte Steinplatten, senkrecht sind sie kahl, obendrauf wachsen grüne Bäume, wie Stoppelhaare die Stämme. Unbekannte Landschaften, Orte, Geschichte - die Bilderflut mag die überdeutlichen Träume bedingen, Traumfilme aus Wünschen und Furcht.

Wieder hat Sandro im Traum über den Treppenstufen gestanden, die Arme ausgestreckt und nach der Mutter gerufen. In einer Stadt am Berg vor einem verkommenen Palazzo wie dem hier, sie will hin, da ist Sandro fort, rennt suchend hinein in das Haus, sie sieht ihn, geht näher heran: Da ist er versteinert, ein Putto, ein Steinengel mit dem Gesicht von Sandro, die Nase verwittert, der Mund weit auf. Auf Balustraden stehen Steinstatuen mit Gesichtern seines Vaters Piero, die haben halboffene Münder, sprechen, bewegen sich, dazwischen bewegt sich Piero wie ein Ballett-Tänzer im schwarzen Dress. Historisch ist dieses Hotel, das Haus im Traum kann es sein, "Palazzo Seneca XVI secolo", protzt ein Schild außen, historisch ist auch die durchgelegene Matratze im französischen Bett, da rollen die beiden zwangsläufig zusammen, kein Wunder, dass der Traum mies war. Die Wände in Bad und Raum sind rissig, die Leitungen uralt und gelötet. Eine richtige römische Wasserleitung wäre moderner gewesen. Die Dusche mag Katharina nur vorsichtig benutzen und wäscht Alfredos strengen Geruch mit dem Waschlappen ab. Wie die Wildschweine draußen so durchdringend riecht er. Katharina wacht im Schüttelfrost auf und steht auf, geht ans Fenster. Draußen ist es dämmerig, still bis auf blechernes Scheppern und Brunnenplätschern. Sie blinzelt über die rosenholzrot gebleichten Ziegeln der Dächer gegenüber ins Hochland, auf Castellucci, das Linsen-Plateau, wo der Dunst des Gewitters abzieht. Gestern gegen achtzehn Uhr war die Bergkette in gelblichem Licht, heute morgen grasen graue Ziegen im weißen Nebel, der in die Wolken zieht. Raus aus dem Haus. Im Grand Lit schnarcht Alfredo, der 'Gatte'. Im Parterre des Hotels ist das Altmodische 'schön antik', der Abend war angenehm; kein Mensch kann immer nur in Angst und Schrecken sein und ans Morden denken. Der Padrone hat sie eingeladen. Zum Restaurant geht es durch seinen Salon, ein Gewölbe mit rotbraungrau melierter Freskendecke, die die Jahrhunderte malten, von der Geschichte coloriert ist der ganze Palazzo. Beim Kamin stapelt sich Knüppelholz, Meterstücke junger Eichen. "Die Eichen füttern unsere Schweine und Wildschweine, die die Schinken und Würste der bei Feinschmeckern berühmten 'Norcini' ergeben. Schweine suchen die Trüffeln. Vor allem wegen der schwarzen Trüffeln kommen die Touristen im Herbst von weither." An einem Ende vom Riesenholztisch, schwarzbraun-glänzend, Keramiktopf mit weißblühendem Kalla, unter den Radierungen der Stadt Norcia alter Zeiten, sitzen sie mit Padrone und Padrona beim Mahl. Eine Sichtscheibe zur Küche, wo weiße Köche hantieren mit Haufen von Fungi Porcini und Filetti. Sie essen Chingiale, das ist Wildschwein mit den Lenticie, den Linsen, die im Hochland von Castellucci wachsen. Sie erzählen der Tedesca; sie fängt an, das Theater zu genießen. Von den Wäldern der Chingiale, der Fungi Porcini, den Tartufi, die Weiden der Ziegen, aus denen allen Prochiutto, Salume, Amaro di Tartufo, Amaretti die Tartufi und Pasta wie graue Schnürsenkel gemacht werden, Salsa nera auch. Katharina versteht solche Besonderheiten nicht gleich, und sie übersetzen, dass es sich um Wildschweine und Steinpilze, Salami und die kostbaren Trüffeln handle.

Norcia sei zwar ein winziger Ort am Rand der Sybillinischen Alpen, aber das Zentrum der feinen Küche der Marche. "Norcini" sei sogar ein eigenes Wort für 'Schweinereien' aus Norcia, Wurstwaren, Delikatessen. Ein normaler Abend unter Bekannten ist es gewesen. Alfredo ist wie immer, wenn er sich außer Gefahr glaubt, ganz freundlich. Getrunken hat er freilich viel vom Wein des Hauses, sehr viel, zu viel. An seine ehelichen Rechte scheint er nachts drauf inzwischen selber zu glauben. Katharina geht im Nieselregen draußen herum, da kann sie am besten nachdenken. Wäre ich lieber mit dem freundlichen Mann aus Graz weitergefahren? Wo er wohl jetzt ist? Keine Wahl hat mir Alfredo gelassen. Ob er mich schon sucht? Hier finden wird beim Morgenspaziergang durch Norcia? Unter dem bleichen Marmor-Benedikt am Markt bleibe ich nun stehen, der Schutzpatron Europas ist er, jetzt soll er mich segnen. Dem kleinen Dom hat die Statue den Rücken zugekehrt, der weißen gotischen Fassade mit den angenagten Evangelisten-Symbolen um die Madonna in ihrer mandelförmigen Gloriole. An der Mauer der Loggia seitwärts lehnen Steinbottiche. Was bedeuten die? Nicht verzagen, einfach fragen. Den alten Mann, der mich freundlich anlacht. "Alte Maße, eine Luke für eingeschüttete Ware ist mit einem Eisenschieber zu verschließen".- "Grazie."

Weiter herumschlendern will Katharina. Der alte Mann kommt einfach mit ihr. Er habe Zeit. Erklärt ihr Piazze und Steine und Brunnen, Straßen mit Läden voller Käse-Rädern, nach Ziegenbock duftendem Pecorino, voller Trüffeln frisch und eingelegt, Schinken und Schweinsblasenwürsten. Wildschwein und Ziegenköpfe, ausgestopft, hängen in frischem Eichenlaub zur Zier, alte Fotos vieler schwarzer Männer in wollener Bauernkleidung hinter einem toten Eber, ein Stoßzahn. Es stinkt nach Bock, Käse, Rauchfleisch - süßlich, bitter, faulig. "Die frischen Trüffeln sehen", sagt der Mann, "wie schwarze Ziegenköttel aus".

Manche Läden werben mit Zeitungsausschnitten hinter Glas. "Jeder Schreiber nennt seinen Händler den besten von Norcia." - "Sie sind alle eccelIente." Ein Wursthändler hat sich besonders angestrengt: Dünne Würste sind zu Zöpfen geflochten und bilden Girlanden, Schweinsblasen blähen sich blaugeädert wie Ballons, ein ausgestopftes Spanferkel dreht sich an rotweißgrüner Schleife im Kreis der Würste, Schinken und Trauben hinterm Fensterglas. Holzkübel voller platter Langbeinschinken riechen nach Holzrauch und Kräutern wie abgebrannte Felder.
Die Tuberosen der Grabkränze vom Blumenladen duften gegen Wildschweingerüche an, hellrosa Büschel an gladiolenlangen Stielen, zu Orchideen, Frauenschuh grünbraun, weißgoldene Satinschleifen "Baldassari Bernardino". Und eine Fotografie des Verstorbenen, die dem Angeklagten in Perugia gleicht, den Bildern aus den Zeitungen ist er wie aus dem Gesicht geschnitten. Andere Schleifen tragen unbekannte italienische Namen, einer aber auch 'Schmid', dann, Katharina stutzt, Francetti, Boleoni, Alfredo Brunetti. Was hat das zu bedeuten? Sie wird den alten Mann fragen. Sie dreht sich um. Er ist fort. Auch ihr ist unbehaglich geworden. Schnell weiter. Sicherlich sind das in Italien Allerwelts-Namen wie bei uns Meyer und Schmidt.

Weitergehen, Schaufenster ansehen, so tun als ob. Alimentari Severini zeigen Zwiebelzöpfe aus Cipolle platt und rund und lang, handgroß und fingerkuppenklein, weiß gelb rot braun. Kürbisblüten in ihren Ranken, Säcke mit Hülsenfrüchten, auch Lenticcie nuove di Castellucci. Vierzehntausend Lire für ein Kilo Linsen, das ist teuer. Die kleinen rundlichen Linsen der Region sind eben etwas Besonderes. Daneben Fahrräder für Kinder lila, pink und blau, Motorroller für den Vater schwarz und grün. Und wieder sind sie da, Sohn Sandro und sein Vater Piero, der Hass auf ihn wird mehr und mehr zersetzt und gegen den gewendet, den sie sich als Beschützer und Rächer dingen wollte. Sie geht immer rundherum; denn Norcia ist nur klein innerhalb seiner Stadtmauern. Gott sei Dank, denkt sie, als sie wieder die Gerüche von Ziegenkäse und Schinken durcheinander riecht und keine Tuberosen mehr schnüffelt, die Kränze vor dem Blumenladen sind alle fort, nur eine abgefallene Tubenrosenblüte liegt da, sie hebt das kleine weißrosa Büschel auf und hält es unter die Nase bis ins Hotel. Am Frühstücktisch tobt schmatzend, ungeduldig, mio Marito Alfredo. "Wo bist du denn gewesen, wir müssen fort."- "Tu die Tuberosa weg, Totenblume, bringt Unglück."- "Das Unglück hat schon zugeschlagen, dein Onkel ist tot." - "Woher weißt du, Neunmalkluge?"- "Er wird gerade beerdigt."

Ab und fort, wieder durchs Gebirge. Mit einem anderen Auto. Wo er die immer herhat. An der grauen Stadtmauer waschen alte Frauen in Steinbottichen und auf steinerner Rumpel helle Laken. Zum Tor heraus und drum herum fahren sie auf Serpentinen davon. Es muss etwas geschehen. so geht es nicht weiter. Einsam durch ein fremdes Land und ziellos zu fahren. Selbst habe ich mich in die Hände eines Kriminellen gegeben. Anders als im Fernsehen ist es. Ganz anders. Rache alles andere als süß. Auch nicht bitter. Nur fad. Frei? Niemals zuvor bin ich solch eine Slavin gewesen. Wie im Kerker ist jedes Eisenbahnabteil mit Alfredo, jedes seines sicherlich gestohlenen Autos.- "Warum müssen wir jetzt wieder mit dem Auto fahren?"-"Weil durch dieses Gebirge keine Eisenbahn fährt, die haben dir zuliebe keine gebaut, stell dir mal vor, verwöhnte Kuh aus gutem Hause. Steig doch aus, wenn es dir nicht passt."- "Wir können uns ja trennen." -  "Je eher, je lieber. Erst löhnen. Wann wird denn endlich etwas aus deiner Kohle?" Ich merke, überlegt Katharina, auch ihm hängt das Ganze zum Hals raus, er will mich loswerden, seit er diesen sonderbaren Anruf in Perugia bekam. Mit der Gerichtsverhandlung scheint sich dort das Blatt gewendet zu haben; richtig hysterisch stürzt sich Alfredo seitdem auf jede Zeitung und sorgt dafür, dass ich nichts lese. Für so ein Gangsterleben bin ich nicht gemacht. Soviel weiß ich, dass ich Sandro suchen muss; denn so lieb die Frauen zu ihm auch sind, für ihre kriminelle Zunft wird er ja doch erzogen. Die kennen da nichts, katholisch und Taufe und als Jungfrau in die Ehe in der eigenen Familie und sonst Mord und Totschlag, wenn es sein muss. Und inzwischen spiele ich für den eigens von mir gedungenen Mörder die Konkubine, auch das ist nicht einmal immer die Hölle, eher fad. So sinke ich und stumpfe ab. Er kann gutmütig sein und war es, bis er im Gebirge diesen neuen Schrecken bekam, durch einen Anruf. Seine eigene Angst bekomme ich ab, roh wird er dann. Seine bärenhafte Tapsigkeit kann ich inzwischen halbwegs ertragen. Doch wenn er mir Angst macht, weicht jede Spur von Zuneigung dem Ekel. Was ist? Er reißt mich schon wieder aus meinen Gedanken. Ist besser so. "Raus." Eine Raststätte unter dem Regen kurz vor dem Linsenplateau. Will er wieder telefonieren, jemanden sprechen, seine mysteriösen Kontakte reichen bestimmt bis auf die obersten Schneegipfel hinauf. Katharina setzt er am Marmortisch bei einem Espresso ab. - "Signora Lerssing, welche Überraschung!" Touristen sind es gewohnt, sich während ihrer Reiserouten an verschiedenen Stationen wiederzutreffen. Als Alfredo sich an den Tisch setzt, rückt Herr Färber trotzdem vorsichtig ab, seine Begegnung in Perugia hat er wohl unangenehm in Erinnerung.

"Ich hab net gwusst, Pardon, dass die gnädige Frau in Begleitung auf Reisen sei." Er steht auf, zahlt an der Bar und geht. Was wäre, wenn sie einfach aufstünde und mit Färber ins Auto stiege. Was hält sie noch zurück? Ratlosigkeit. Verstörung. Furcht lähmt die Entscheidung. Was will ich denn nun? Alles lassen, Augen zu und auf Reisen alles vergessen. Nein, doch nicht, nein. So wie der da soll Sandro nicht werden. Doch nach ihm suchen. Sinnlos. Nein? Doch? "Ich werde dir helfen, mit fremden Kerlen poussieren." Den Espresso stellt Alfredo nicht vor sie hin, er wirft ihn hin, die Tasse fällt um, der Kaffee fließt in den hellen Sommerrock. "Scusi", sagt er und lacht. Es ist nicht nur eine Redewendung, jetzt stimmt es buchstäblich: sie sieht rot. Sieht in den Schoß und Rock, die Kaffeeflecken sind braun, sieht hoch und in des Rohlings rotes Ohrfeigengesicht, das ist rot. Sie sieht rote Kreise um seinen Kopf, und das sind keine Heiligenscheine, sie packt die Tasche, reißt den nassen Rock hoch und rennt raus. Färber nach in sein Auto. "Geben Sie Gas." Abfahrt im Regen, immer höher hinaus, immer dichter der Dunst, leider sind die seltsamen hohen Berge verhangen. Verstellen die Sicht draußen wie ihre Verstörung innen im Kopf alle Klarheit. Wie sehr sie ein Anblick von Bergen noch immer beruhigt und auf die Erde zurückbringt. Über das Gebirge geht es, kurz vor Castelluccio südwärts ab, dahin ginge es nach Aquata deI Tronto, immer den Fluß entlang, an dem Ascoli liegt. Dort will der Schweinehund hin. Nur nicht den treffen. Aufpassen, schnell bergauf. Das Hochland, auf dem die berühmten Linsen wachsen, ist ein brotbreites und wie ein Brotlaib rundliches Plateau, wie ein aufgegangener Hefefladen so hochaufgeworfen, hat die Linsenfarben zwischen beige und olive wie Soldaten-Tarnfarben im Feld, sieht von Weitem seidenweich aus wie ein kurzgeschorenes Fell einer Siamkatze, Piano Grande Castelluccio heißt der Riesenhefekloß. Bei Höhe vierzehnhundert schlägt Herr Färber vor, auszusteigen, hoffentlich aus anderen Gründen als Alfredo. Zum Glück erkennen sie dessen Auto beizeiten, sehen ihn mit einem anderen Mann wild gestikulierend verhandeln. Herr Färber fährt rückwärts und wieder bergab. Die Straße geht jetzt immer am Fluss Tronto entlang. Auf den Bergen und an den Hängen des Tronto-Tals liegen Dörfer mit Stein- und Dachziegeln, die von Sonne und Regen gebleicht sind, beige und rosa die Steine, gelb und grün macht sie das Moos. Schweigen und raus sehen, das beruhigt selbst jetzt. Herr Färber weiß es. Erst nun fragt er leise und langsam. Katharina schüttelt den Kopf. - "In einen Schlamassel bin ich geraten. Durch eigene Schuld. Dabei hab ich doch nur ... will ich nur ... mein Kind suchen." "Schlamassel vielleicht. Das mit der Schuld lassen wir vorerst." Doktor Färber ist besorgt um sie. Dabei geduldig. Als Mann aus sicherlich behüteter akademischer Welt reagiert er auffallend gefasst, geradezu amüsiert hilft er ihr, das schlechte Gewissen zu vergessen. Sie vertraut ihm, lächelt, misstraut ihm dann doch wieder. Ob er doch einer von denen da, von der 'Famiglia' ist, so oder so hinter ihr her? Sei es als Spion der Verbrecher, sei es als Kerl. Vorbei sind die Zeiten, sei's Glück oder Unglück, außerdem hat sie jetzt andere Sorgen.

Über einen schäumenden Gebirgsbach voller Geröll führt eine hochgebogene Steinbrücke, uralt wie das Dorf am Hang. "Erschöpft, kleine Pause und Jause?" Vor der einzigen Bar am winzigen Piazza sitzen sechs alte Männer beim Achtel Rotwein. Eine Frau schlurft in Pantoffeln herein und kauft Francobolli. "Per Favore un Caffe. Eine Melange." Katharina übersetzt: "Caffe Latte". Der Espresso wird im häuslichen Aluminiumkännchen auf einem Kocher gebraut. Die Aufregung und Furcht, endlich Entspannung. Katharina muss raus, übern Hof in das Herzhäuschen, der Riegel geht nicht zu. Sie beugt sich über das nur noch hier und da emaillierte Erdloch, als die Tür aufgerissen wird."Find ich dich in der Kloake, da gehörst du auch hin, puta tedesca. Weglaufen, das fehlt noch." Seine Schläge fallen wahllos, ihr Kopf knallt gegen die Wand, bei letzten Mal auf etwas Metalliges, was, kann sie nicht mehr erkunden.

- "Geht es besser?" Sie will aufschrecken, fort. Aber das geht nicht, sie lehnt halb liegend im Auto, sie fahren. Und das Gesicht, das sie ansieht, ist nicht brutal, nicht feist. Besorgt und schmal, voller Falten, wie genau sie sie graugrünen Augen hinter der Goldrandbrille erkennen kann, niemals vorher so klar. Wie ist sie in Herrn Färbers Auto gekommen? Wo ist Alfredo? "Aber was war? Was ist gewesen?" "Italienische Gatten scheinen nicht so galant wie in den Filmen zu sein. Aber, Pardon, gnädige Frau, wenn ich frage, es scheint mir doch Not am Mann - Pardon, an der Dame zu sein - nicht wahr, er ist nicht ihr Mann?"- "Nein." Schon das einzige Wort tut weh, blubbert heraus aus geschwollenem Mund, und der schmeckt nach Blut. "Was ist gewesen? Sie können offen sprechen. Wenn es Ihr verständliches Misstrauen dämpft: mir sind vom Fach her Kriminalfälle nicht unvertraut; ich bin als Psychoanalytiker gelegentlich als Sachverständiger und Gutachter tätig an unserm Grazer Gericht. Da, sitzen's commod. Gucken's raus. Das beruhigt." Dass er das weiß, gibt Katharina mehr Vertrauen als alle Ausweise. Aber auch Alfredo hat sie damit besänftigt. Gutmütig. Wie ein großer Junge. Sie sagt es Herrn Färber, soweit das die blubbernden Blutblasen zulassen. "Ja, das ist bekannt, manche Psychologen fragen sich, ob gewisse Kriminelle nicht einfach auf dem vormoralischen Standpunkt eines Kindes geblieben seien, vor jedem Unrechts-Bewusstsein. So Theorien sind das. Sie haben Dringenderes im Sinn. Wollen Sie erzählen? Wer ist dieser Alfredo? Woher kennen Sie ihn?"
"Erst Sie. Sie sollen erzählen. Von sich." - Warum nicht. Ihr Mund kann derweil ein wenig abschwellen. Herr Färber erzählt langsam. Aus der Steiermark stammt der Vater, die Mutter aus Wien, in die schöne Jüdin hat sich der Vater während des Studiums verliebt. Ich habe dort auch bis 1939 studiert, hatte noch Sigmund Freuds Tochter Anna kennengelernt. Musste dann fort wegen der Nazis, Sie wissen ja, Mutter Jüdin und auch noch die Psychoanalyse zum Studium der Philosophie und Medizin. Ging erst nach London, später in die Staaten, war lange Professor in Wisconsin, auch in Boston, Freund von Frederick Wyatt, hier und da, kam vor zehn Jahren nach Österreich zurück. Da hält es mich zeitweilig. Ahaspherus, der ewig fahrende Jude. Inzwischen reise ich jedoch zu meinem Vergnügen. Ein bestimmtes Ziel hab ich net. Obgleich, Ascoli tät mich schon interessieren. Wenn's wollen, bleib ich in Ihrer Nähe als Wachhund, quartier mich im gleichen Hotel ein." Katharina hat sich erholt, ihr Vertrauen wächst an. Sie tastet nach dem schiefen Mund. Versucht langsam zu sprechen. "Ganz schön fing alles an." Sie schüttelt den Kopf. "Sagens mir später." - Sprechen tut weh. Erst mal überlegen. "Als neues Leben mit Hoffnung. Frankfurt am Main. Erst war mir die Stadt fremd. Jetzt nicht mehr. Schließlich ist Frankfurt Sandros Geburtsort, mein kleiner Halb-Italiener, Halb-Sachse, ist ein richtiger Hessebub. Multikulti, wie Frankfurt so ist. Immer mehr meist freundliche Leute habe ich in der Pizzeria kennengelernt, die vom hessischen Fernsehen und welche von der Universität, die von den vielen Boutiquen und Läden und Werbeagenturen und Schulen, manchmal auch Handwerker, aus verschiedenen Ländern und sowieso von der US-Army. Eine gemischte Gesellschaft, abwechslungsreich, und alle haben aus ihrem Alltag erzählt. Wir waren nicht teuer, alle kamen gern. Ich war zwar zum ersten mal seit meiner Jugend in Leipzig ohne Beruf, hatte aber viel zu organisieren mit den ererbten Mietshäusern, half auch gern und oft aus in der Pizzeria. Dann aber und vor allem gab es Sandro für mich. Vielleicht zu viel. Wenn ich nachträglich überlege, habe auch ich ihn verzogen, nicht nur der Vater. Vielleicht rede ich mir schon wieder etwas ein. Es war ein normaler Alltag, und als sonderbar ist mir außer Alfredo niemand aufgefallen."

Schön ist der Blick auf die Höhenzüge jenseits des Tronto. Das Tronto-Fluss strömt auf die Adria zu, hinter den Bergen wird das Tal weit. Zwischen vielen Hügeln mit Eichen, Steineichen, Esskastanien, Walnuss, Ulmen und unbekannten Bäumen liegt eine blühende agrarische Landschaft, zwischen Wäldern Felder mit Sorco, also Hirse, Sonnenblumen, Mais, Oliven, Wein. Und wo das Tal ganz weit wird in Meeresnähe, vor Ascoli Mare, breitet sich die große Stadt Ascoli Piceno. Diese Agrar-Metropole der Marken künden viele Schilder an. Ascoli Piceno. Was ist damit gewesen? Mit diesem Namen. Gedächtnisriß. Katharina faßt nach dem Schmerz auf dem Kopf, irgendwelche Verbände oder Tücher sind drüber. "Ich konnte Sie nur notdürftig mit meiner Reiseapotheke verarzten; in Ascoli müssen wir in die Klinik. Der falsche Gatte hat sich verdrückt. - "Hier, das soll ich der Signora geben." Einen gefalteten Zettel. Feucht von wässrigem Blut.

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