Eine neue Front im Kampf der Geschlechter
LITERATURNOBELPREIS 2015
Gut einhundert Jahre nachdem Henri Dumont den Verwundeten des Krieges erstmals eine Stimme verliehen hatte, suchte Swetlana Alexijewitsch das weibliche Gesicht des Krieges. 1948 in Stanislaw, in der Ukraine geboren, wuchs Alexijewitsch mit Geschichten vom Krieg auf, eigentlich gab es viel zu viele davon, aber trotzdem: etwas fehlte. „Es gibt noch einen Krieg, den wir nicht kennen“, schreibt sie.
Die Bereitschaft der Frauen, über diesen Krieg zu reden, ist überwältigend. Sieben Jahre lang suchte Swetlana Alexijewitsch Frauen auf, die in der roten Armee gedient hatten, als Ärztin, Soldatin, Wäscherin, Feldwebel, Scharfschützinnen. Sie hörte ihnen zu. „Und vor meinen Augen vermenschlicht sich Geschichte.“ Das Buch, das aus diesen Gesprächen entstanden ist und nach erheblichen Problemen mit der Zensur erst 1985 unter Gorbatschows Perestroika erscheinen durfte, ist eine aufrichtige Suche nach Wahrheit, nach der anderen, unbeachteten Wahrheit von Menschen, denen lange Zeit niemand zuhören wollte.
„Man kann sich der Wirklichkeit nicht unmittelbar nähern, Auge in Auge. Zwischen uns und der Realität stehen unsere Gefühle [¡K] Ich schreibe keine Geschichte des Krieges, sondern eine Geschichte der Gefühle.“
Alexijewitsch übernimmt in diesem Buch die Rolle einer Regisseurin, sie stellt dem gesammelten Material eine Frage und lässt dann die Frauen selbst erzählen, ein vielstimmiger Chor aus einfachen Stimmen. Alexijewitschs Rolle ist die der Zuhörerin, sie muss die Geschichten aushalten, jahrelang hat sie sich in dieser besonderen Art des weiblichen Widerstands geübt. „Wenn sie mir etwas erzählen“, schreibt Alexijewitsch, „sprechen sie erst ganz leise, am Ende aber schreien sie fast. [¡K] Ich habe nicht die Kraft, mir alles anzuhören. Aber sie müssen reden...“
Das Buch war sofort ein Erfolg. Über zwei Millionen Exemplare wurden verkauft.
Auch nach Erscheinen des Buches riss der Kontakt zu ehemaligen Kriegsteilnehmerinnen nicht ab. Immer wieder trafen Briefe bei Swetlana Alexijewitsch ein, immer andere Frauen wollten ihre Geschichte loswerden und mitteilen.
Was sich über all die Jahre hinweg nicht geändert hat, ist nicht nur die Frage danach, warum so viele Frauen von Anfang an freiwillig an die Front gehen wollten. Sondern vielmehr, was davon, was sie daraufhin erlebt haben, zu Vergangenheit wird, und was alles ändert, Lebensläufe zerstört, die sonst möglich gewesen wären? Was ist mit den seelischen Wunden und was mit den Nach und Nebenwirkungen, die nur die Frauen erlebt haben?
Was hat die Frauen bewogen, sich an die Front zu melden?
Jede antwortet mit ihrer eigenen Geschichte und doch sind die Motive fast identisch. Man will für die Heimat sterben, für die Familie, die Propaganda wirkt nicht nur bei den Männern. „Diese Plakate, die jetzt im Museum hängen, <Die Mutter Heimat ruft!> und <Was tust du für die Front?>, also auf mich haben die sehr gewirkt. Ich hatte sie ständig vor Augen...“, sagt eine der von Alexijewitsch Befragten und eine andere: „Es heißt: Der Mutterinstinkt ist stärker als alles andere. Nein, die Idee ist stärker. Und der Glaube. Wir haben gesiegt, weil wir geglaubt haben. Die Heimat und wir ¨C das war eins. So bleibe ich bis ans Ende meiner Tage.“
Aus den Geschichten wird recht bald klar, dass im Krieg vollkommen andere Regeln herrschen, dass Dinge mit Körper und Geist geschehen, die man niemals für möglich gehalten hätte. Keine 50 kg schwere Frauen schleppen männliche Verwundete in voller Montur vom Schlachtfeld, Schwangere tragen Minen am Körper...
Bei der Auswahl an Geschichten hat Alexijewitsch versucht möglichst viele unterschiedliche Berufe im Krieg zu Wort kommen zu lassen, weil jedes der Tätigkeitsfelder einen ganz speziellen Blickwinkel auf den Krieg hat. Die Krankenschwester schleppt Tag und Nacht abgetrennte Gliedmaßen in Kübel, so dass sie sich nicht vorstellen kann, dass es überhaupt noch unversehrte Menschen gibt, während die Pilotin noch keinen einzigen Toten gesehen hat.
Als die Männer aus dem Krieg heimkehren, werden sie unterschiedslos gefeiert. Bei den Frauen ist es anders. Niemand will ihre Geschichten hören. Alexijewitsch erzählt die Geschichte von einer Mutter, die die von der Front heimgekehrte Tochter nach wenigen Tagen aus dem Haus schickt, weil jeder weiß, was sie in den letzten Jahren getan hat, und wer soll unter diesen Umständen ihre Schwestern heiraten?
Während des Krieges sehen die Männer Kameraden, Schwestern in den Soldatinnen, die daheim gebliebenen Frauen hingegen reden schlecht von ihnen, beschimpfen sie als Huren. Aber auch die Männer wollen nach dem Krieg vergessen und suchen sich Mädchen, die den Krieg nicht von innen kennen, die unberührt und unschuldig sind. Nach dem Krieg ist alles anders, die Männer sind Helden, die Frauen stehen ohne alles da, nur mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen, die sie für sich behalten müssen.
„Wenn man den Krieg mit unseren Augen sieht, mit Frauenaugen ¡K aus Weibersicht ¡K Dann ist er schlimmer als schlimm. Darum fragt uns auch keiner...“
Ist dieses Schweigen weiblich oder nur das Ergebnis männlicher Macht?
Gibt es eine Lehre, die man aus den schmerzhaften Erfahrungen, aus den Geschichten der weiblichen Soldaten ziehen kann? Alexijewitsch schreibt: „Was ich über den Krieg erfahre, zwingt mich, auch über unser jetziges Leben nachzudenken. Zu untersuchen, wo es sich aufgelöst hat, dieses Wissen. Wie wir in Wirklichkeit sind, aus welchem Stoff. Und wie haltbar dieser Stoff ist.“
Dieses Buch jedenfalls wirft eine Menge Fragen auf. Darüber was den Unterschied zwischen Männern und Frauen ausmacht, aber mehr noch darüber, was Krieg ist, wie unbegreiflich, unbeschreiblich. Und immer wieder so gefährdet, vergessen und verfälscht zu werden, dass es nie genug Stimmen geben kann, die davon erzählen.
Man spürt, dass die Tatsache, dass vergessen wird, fast noch schwerer wiegt, als das, was geschehen ist. „Hör uns zu“, sagen die Frauen.
Fixpoetry 2013
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