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Kritik

Kluge Erzählhaltung und pulsierende Sprache

Warum ich das neue Buch von Brigitte Kronauer noch einmal lesen muss
Hamburg

Der alternde Schriftsteller Pratz, eine der Hauptfiguren des Romans "Gewäsch und Gewimmel" von Brigitte Kronauer, teilt Literaturkritiker in zwei Gruppen ein: diejenigen, die kein Geheimnis daraus machen, dass sie viel lieber Bücher über Geologie, Astronomie, Film- oder Zeitgeschichte lesen - und diejenigen, die "noch bis ins hohe Alter vollorchestrig [...] den fiebrigen Literaturliebhaber markieren".

Da ich keinen Sinn darin sehe, schlechte Bücher zu rezensieren, und wissenschaftliche Bücher nur zu Recherchezwecken lese, von Belletristik aber, wenn sie gut ist, geradezu infiziert bin, muss ich wohl, wenn auch noch nicht alternd, in die zweite Gruppe eingeteilt werden. Warum mich das Buch von Brigitte Kronauer begeistert, erschreckt, durchrüttelt, empfindsam macht für das, was um mich herum geschieht, warum ich bald den Sound ihrer Sprache im Kopf habe, anfange, meine Eindrücke in Bildern festzuhalten, die Bilder nach Fragen sortiere, aufhorche bei Gesprächen über den Tod, der in Kronauers Werk immer wieder auftaucht in allen Facetten... (Meine Tochter und ihre Freundin unterhielten sich über ihren verwitweten Deutschlehrer. Freundin: "Meine Mutter findet es doof, dass Herr Wendt noch nicht wieder da ist." Ich: "Ja, aber der trauert vielleicht noch. Der hat ja seine Frau verloren. Deine Mutter weiß doch gar nicht, was mit Herrn Wendt ist." Freundin: "Doch. Die ist Steuerberaterin.")

Im ersten Zwölftel des 600 Seiten starken Werkes, dessen Protagonisten Patienten aus einer Krankengymnastik-Praxis sind und dessen Erzählperspektive überpersonal, strukturell aber in der Therapeutin Elsa Gundlach anzusiedeln ist, treten pro Seite ungefähr 1,5 neue Personen auf - ein Ansturm, unter dem sich der sensible Leser zunächst duckt, um dann in einer Art Gegenwehr eine mathematische Gleichung anzulegen, mit der er das Desaster immerhin fest umreißen kann: Wenn das in dem Tempo weitergeht, spielen am Ende 900 Leute mit! Doch gerade in diesem Moment, nämlich ab S. 50, stelle ich fest, dass die Personen nun nicht mehr mehr werden, sondern wiederholt auftreten und den Leser in ihre Geschichten hineinziehen, sei es durch aufgeworfene Fragen, aufgebaute Spannungen, neu zutage tretende Charaktereigenschaften oder neu in ihr Leben tretende Menschen. Wie geht es mit der jungen, neurotischen Eva Wilkens weiter, die sich gerade von ihrem Freund getrennt hat und nun durch die Welt reist und sich ständig mit ihren Eltern in Bahnhöfen trifft? Schafft es Pseudostudentin Katja ihren Nachbarn, Orchideenliebhaber und Familienvater, zu verführen? Wie gefällt uns das Weltbild des Geistlichen Dillburg, der immer Frau Fendel besucht, und nach dem Tod seines Zuhälterbruders seine Schwester zuhause aufnimmt? Zerfällt es zum Schluss? Stirbt Herbert Wind, der sich in den Bergen mit dem Tod auseinandersetzt? Stirbt der Misantrop und Westphale Erwin oder halten ihn seine negative Sicht und Heidegger geradezu am Leben? Ist Alex, der alle möglichen Jobs schon ausprobiert hat - Rettungssanitäter für 5 Euro 11 die Stunde, Gewürzeverkäufer auf dem Wochenmarkt, Pauschalkraft in einem Drogeriemarkt (6,50), Zeitungsverkäufer - nicht der Abgebrühteste von - ja ich möchte sagen: uns - allen?

Dabei werden die einzelnen Geschichten erst allmählich sichtbar. In Form von Anekdoten, Briefen, E-mails, Zeitungsberichten, Dialogen, Kurz- und Kürzestprosa, Fragmenten und Notizen, und allen gemeinsam ist eine überpersonale, ebenso dichte wie weitschweifige Sprache, eine Sprache, an die ich mich erst gewöhnen muss, wie an eine üppige aber verwilderte, reizende aber abgründige Landschaft. Und schließlich verspüre ich Lust, mich mit den Protagonisten zu unterhalten, möchte sie was fragen, eine Haltung, die von der Autorin noch dadurch unterstützt wird, dass nicht wenige Absätze mit "Rätsel" übertitelt sind. Diese Abschnitte geben dem Leser regelrecht Hausaufgaben auf, provozieren ihn, sind entweder aus der Erinnerung oder erst später zu lösen, sind Zitate von anderen Schriftstellern oder unlösbar; der Leser wird regelrecht in die Mangel genommen - so etwas habe ich lange nicht bei einer Lektüre erlebt.

Und nun bin ich mittendrin, da wird dieser wie ein Wachtraum gebaute Roman 200 Seiten lang unterbrochen für die Geschichte von Luise Wäns und ihrer Tochter Sabine, beide halsüberkopf verliebt in einen Mann, Leiter eines Renaturierungsprojektes, der bald von ihrem ganzen Freundeskreis angehimmelt wird.

Die alte Frau Wäns, die das Geschehen auf 12 Wanderungen teilweise Krankengymnastin Elsa, teilweise ihrer Jacke, ihrem Hut oder ihrem Rucksack erzählt, ist eine geniale Erzählerin, denn sie sitzt bei den Zusammenkünften der Freunde in ihrem Fernseheck, hat dadurch eine große Distanz, ist andererseits mit großer Empathie für alle (und vor allem für Herrn Scheffer) beteiligt; kontrastiert werden die menschlichen Verstrickungen hin und wieder mit dem blassen Fernsehprogramm. Eine ideale Perspektive, geschickt verknüpft sie Vergangenheit und Gegenwart und die Erscheinungen in der Natur, und alles ist durchleuchtet von der Liebe, ohne sich darin aber zu verlieren. Diese entspannte und gleichzeitig lebenslustige Geisteshaltung ermöglicht dem Leser kaum eine Pause. Auch geschickte Aussparungen, das, was nicht erzählt wird, spielt dabei eine Rolle. (So frage ich mich: Wer war denn Herr Wäns? Und von wem hat Sabine ihren Sohn?)

Dieser zweite Teil nimmt ein gutes, aber kein Ende, wird im dritten Teil in Stücken, mächtigen Schlussakkorden, zuendeerzählt. Der letzten Teil scheint auf den ersten Blick formal dem ersten zu ähneln: Wieder wimmelt es, wird abgewaschen, die anfänglichen Schicksale nehmen ihren Lauf, nur tollkühner, scheinst, mit überraschen Verbindungen und ironischen, fast übernatürlichen Wendungen (sie klauen sich gegenseitig ihre Lebensläufe!) und ich möchte rufen: "Halt. Stopp. Kann es nicht so in Ruhe ausplätschern? Wäre das nicht Abbild des Lebens genug? Schon jetzt habe ich mir Notizen für eine lobende Kritik gemacht, da lässt sich doch auf den letzten 150 Seiten nichts mehr rütteln." Aber, bei so vielen Todesahnungen und Sehnsüchten ( Frau Wäns: "Es gibt eine Liebe, die uns wie Salz durchdringt, durch und durch und durch. Es existiert dann keine Tugend mehr. Die ist erst hinterher wieder möglich, selbst der Himmel reicht uns erst danach seine Hand...") - wo führt das hin? Wer bleibt am Leben? Wer wird zum Mörder?

Bei aller Schwermut, Dramatik und Melancholie drückt die Erzählhaltung Entspannung und Leichtigkeit aus, keine Verbitterung, sogar eine gewisse Gemütlichkeit; die Autorin schöpft aus einem Überfluss an Sprache und Bildern..., wie das Leben schreitet dieser Roman immer ein bisschen schneller voran als die Informationen sortiert werden können, deshalb ist dieses Buch auch so mitreißend und pulsierend - und ein kluger Gesellschaftsroman.

Passt der Untertitel? Vom Luxus, ein Schicksal zu haben -  "Nein, eigentlich nicht. Denn wir wissen ja nicht, ob es nicht Luxus wäre, kein Schicksal zu haben, wie die in der Evolution erstarrten Tiere", könnte Hundebesitzer Brück darauf antworten.

Kommt nicht Brigitte Kronauer selbst vor? Ein Geschichtenerzähler, der in einer einsamen Jagdhütte seinen Freunden eine Legende nach der anderen erzählt und dabei angespannt auf die Uhr schaut. Er hat einen Pakt mit einem Geist abgeschlossen, der ihm behilflich war, sein Familienanwesen vorm Untergang zu bewahren. Als er denselben Geist um diese Jagdhütte bittet, muss er ihm versprechen, hier vor immer mindestens drei Gästen genau 12 Legenden bis Punkt Mitternacht zu erzählen, sonst sei seine Seele verkauft. Als dieser Mann im Übermut dann eine 13. erzählt, passiert... nichts, nur fühlt er seitdem in sich einen kleinen Hohlraum. Auch Luise Wäns treibt es auf die Spitze, macht noch eine 13. Wanderung.

Brigitte Kronauer
Gewäsch und Gewimmel
Klett Cotta
2013 · 615 Seiten · 26,95 Euro
ISBN:
978-3-608-98006-6

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