Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Wo ist der Bär?

Fantasie und Realität, Gegenwart und Vergangenheit schichten sich in Peter Zimmermanns „Stille“ zu einem gehaltvollen Romankunstwerk
Hamburg

Eine Hütte irgendwo im Wald, ein Mann in Pfadfinderuniform und der ominöse, ständig wiederholte Satz „Es wird Regen geben“. Derart reduziert und kryptisch beginnt Peter Zimmermanns vierter Roman „Stille“. Aus ungeklärten Gründen wird die Hauptfigur Jan in den Wäldern eines namenlosen, totalitär regierten Landes gefangen gehalten. Er könnte fliehen, tut es aber nicht.

Obwohl zunächst kaum etwas passiert, übt „Stille“ einen Sog aus, der zum Weiterlesen zwingt. Was an Action fehlt, macht Zimmermanns poetische, assoziationsreiche Sprache wett. „Da waren keine Gärten mehr zu bestellen, keine Türen zu öffnen, keine Zimmer zu betreten, keine Münder zu küssen, keine Kinder zu umarmen, keine Geschichten zu erzählen. Jan war die Welt abhandengekommen“. In einem Satz eröffnet Zimmermann eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten, die ebenso an eine unterschwellig bedrohliche Robinsonade à la Marlen Haushofers „Die Wand“ wie auch an kafkaeske Verstrickungen oder eine beginnende Schizophrenie denken lassen.

Erinnerungen füllen Jans Einsamkeit, insbesondere die an drei wichtige Frauen in seinem Leben: Katharina, Camilla und Iris. Nicht zu vergessen Paul, sein einziger Freund aus Kindheitstagen, der bei einem Bootsunfall ertrank. Eine komplizierte Viererkonstellation schält sich aus Jans Erinnerungsfetzen, eine Fehlgeburt, und schließlich Jans Flucht nach Kalifornien.

Wer bei so vielen lose ausgelegten Handlungsfäden ans Aufgeben denkt, dem sei gesagt: Zimmermann ist ein Meister der verschachtelten Dramaturgie. Jedes noch so kleine Detail wird später wieder aufgenommen; fast alle zu Anfang gestreuten Hinweise klären sich nach und nach auf.

Kapitel zwei bietet das komplette Kontrastprogramm zur postapokalyptischen Einöde: Jans Lebensgefährtin Katharina sitzt unversehrt in einem stinknormalen Café, trinkt Espresso und raucht.  Gerade hat sie einen Anruf von Camilla erhalten, die nicht nur Pauls Witwe ist, sondern zudem sowohl Katharinas als auch Jans Ex-Geliebte. Im Folgenden überbringt Camilla Katharina ein Bündel mysteriöser Briefe, die Jan einst an eine gewisse Iris in Kalifornien sendete. Und dann taucht auch noch Renny Harlin auf, der „unsichtbare Fünfte“, der behauptet, Informationen über Jans Verschwinden zu besitzen. Tatsächlich jedoch wartet er lediglich auf eine Gelegenheit, Katharina seine eigene Lebensgeschichte aufzutischen, was eine weitere literarische Wendung nach sich zieht: Plötzlich befinden wir uns auf einer Odyssee von Litauen nach New York, mitten in einem Schelmenroman voller skurriler Charaktere und Begebenheiten, inklusive irving‘schem Potpourri aus Sex und Gewalt. In Rückblenden setzt sich auch Katharinas Biografie allmählich zusammen. Immer wieder wird sie zurückgeworfen in eine gruselige Kindheit zwischen Jagdtrophäen, grabschenden Männerhänden und der traumatischen Erinnerung an  einen misslungenen Mordversuch.

Indem er geschickt zwischen Jans und Katharinas Perspektive hin- und her springt, kreiert Zimmermann eine Verschachtelung der Erzähl- und Realitätsebenen, die in ihrer Komplexität an den postmodernen Sprachkünstler Thomas Pynchon erinnert. Wie dessen großer Roman „V“ spielt auch „Stille“ mit der obsessiven Suche nach jemandem, der möglicherweise gar nicht existiert, und webt dabei ein dichtes Netzwerk aus literarischen, philosophischen und popkulturellen Bezügen. Surreale Taxifahrten, Kriegserinnerungen und die Angst vor dem Ertrinken bilden bei Zimmermann den roten Faden, der durch das doppel- und dreifachbödige Romangebildet führt.

Mit sichtlicher Freude lockt der österreichische Autor und Literaturkritiker seine Leserschaft immer wieder auf falsche Fährten – aber sind diese Fährten überhaupt „falsch“? Vielleicht steckt ja ein Teil des Rätsels Lösung in einer der zunächst nebensächlich scheinenden Abschweifungen und biografischen Eskapaden. Oder aber das Trauma der Gefangennahme und der Isolationshaft spielt sich lediglich in Jans Imagination ab. „Jan hat gelebt, als ob jeder Mensch ein eigener Planet wäre“, sagt Katharina über ihren verschollenen Geliebten. Offenbar also gehörte der totale Rückzug in die Phantasie, die Abkapselung von der Realität seit jeher zu Jans favorisierten Bewältigungsstrategien. So lässt sich die mysteriöse Gefangenschaft auch als selbstauferlegte Zeit der Buße lesen, als bloße „Vortäuschung einer Wirklichkeit, um zu beweisen, dass es ein Fehler war, Katharina zu verlassen“.

Geheimniskrämerei kann man Zimmermanns Romanpersonal nicht vorwerfen – im Gegenteil, sämtliche Figuren sind äußerst mitteilsam. Mit penibler Sorgfalt achtet der Autor darauf, einmal aufgenommene Fäden miteinander zu verknüpfen, Figurendynamik und -motivationen psychologisch nachvollziehbar zu gestalten. Das eigentliche Faszinosum des Romans jedoch bleibt: Trotz aller Beredtheit werden seine Figuren nicht wirklich greifbar; die tiefsten Beweggründe bleiben auch ihnen selbst verborgen.

Gegen Ende des Buches begibt sich Jan auf eine skurrile Bärenjagd. Hitzige Diskussionen entbrennen, bis sich die Teilnehmenden schließlich auf die Grundprinzipien der Jagd einigen können. Zufrieden schreiten sie voran. Bis schließlich einer einwirft: „Das Einzige, was wir nicht wissen, ist: Wo ist die Flinte und wo ist der Bär?“

Das große Rätsel also bleibt. Und damit ist „Stille“ ziemlich nah dran am Leben.

Peter Zimmermann
Stille
Secession
2014 · 224 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-905951-23-3

Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge