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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Geschichten als lebendiger Teil der Geschichte

Erich Hackl lässt seine Mutter und eine untergegangene Welt auferstehen
Hamburg

Ein Vater, der in den Frostnächten ein kleines Feuer entzündet, um den Kirschbaum, den einzigen im Dorf, durchzubringen, das ist keine ausgedachte, sondern eine vererbte Szene. Und sie ist auch nicht Teil einer Geschichte, sondern eines Panoramas, eines Zeitbildes, das aus Momenten des Lebens einer einfachen Frau besteht. Augenblicke aus den ersten 25 Jahre einer Bauerntochter im Unteren Mühlviertel, einem entlegenen, wenig fruchtbarem Hügelland nördlich der Donau, nahe der tschechischen Grenze. Erich Hackl erzählt diese Geschichte mit einfachen Worten und sowohl Titel als auch das dem Buch vorangestellte Motto beweisen, wie wichtig ihm dabei ist, dass die Geschichte nicht nur von seiner Mutter handelt, sondern ihr gehört, dass er sie sozusagen nur von ihr geerbt hat.

Armut und Vorurteile gegenüber Fremden bestimmen die abgegrenzte Welt, in der ein Mädchen aufwächst, die trotz allem über einen offenen Horizont verfügt. Von den Zigeunern, die Jahr für Jahr zu Frühlingsbeginn und mit Anbruch des Herbstes ins Dorf kamen, bis sie auf einmal ausblieben, sagt die Mutter: „Unsere Schuld war es nicht, daß sie mit einmal ausblieben. Unsere Schuld war, daß wir nicht fragten, wo sie geblieben waren.“ Und „Schuld“ haben in der Dorfgemeinschaft viele auf sich geladen, immer dann, wenn das Gerede und die engherzige Moral wieder ein Leben zerstört haben, weil eine unverheiratet schwanger wurde, oder es zwar geschafft hat, dem mißbrauchenden Vater zu entkommen, nicht aber dem schlechtem Leumund. Aber auch kleine Heldentaten beobachtete und erinnerte die Mutter. Wie die Töchter des Schmieds die Kirchenglocke jahrelang verstecken, damit diese nicht zu Kriegszwecken eingeschmolzen wurde.

Es ist eine magische Welt, von der erzählt wird. Geistergeschichten und Legenden spielen eine große Rolle im Dorfalltag, man glaubt an Geister und höhere Mächte, so sehr, dass man das Vieh in der Heiligen Nacht singen hört. Aber es ist auch eine Welt der Entbehrungen, der körperlichen Strafen und der Kinderarbeit.

Zunächst ist es fremd, das zu lesen, diese einzelnen Szenen einer fremden Welt, aber nach wenigen Seiten entfaltet das Beschriebene einen Sog, die Sätze erscheinen so schön, dass ich beinahe jeden zitieren möchte, zumal es kaum möglich ist, sie nachzuerzählen, ohne ihnen den Zauber zu nehmen, der in Hackls einfachen Formulierungen liegt. Wie hier davon erzählt wird, wie alle am Existenzrand balancieren,  wie die Kinder nicht nur wegen der großen Armut, sondern mehr noch aufgrund der Hilflosigkeit der Eltern viel zu früh viel zu viel Verantwortung übernehmen müssen, ist gerade aufgrund der sehr einfachen, sehr lakonischen Wortwahl, so eindringlich: „Von ihm Fallen und Landen zu lernen, das hätte ich meinem Vater gegönnt. Aber er schaute ins Leere.“

Dabei blitzt auch immer wieder ein Lachen über sich selbst durch die Zeilen, und selbst wenn die Mutter von den eigenen Fehlern und Schwächen berichtet, klingt das nicht larmoyant.

Als fünfzehnjährige besucht die Mutter Verwandte in der Stadt, ist berauscht von der Freiheit, den Möglichkeiten, die es dort gibt, übersieht aber auch nicht den aufkommenden Faschismus, über die Judenverfolgung und Vernichtung heißt es: „Natürlich wußten es alle. Auch ich, die lange geleugnet hat, es zu wissen.“ Überhaupt sind die Notate durchwegs gekennzeichnet durch einen großen Gerechtigkeitssinn, der nicht Halt macht vor den eigenen Fehlern: „Für mich begann der Krieg, als er dem Ende zuging. Das erklärt mein Verkennen von Ursache und Wirkung.“

Die Aufzeichnungen schließen mit dem Ende dieser Welt, als die Mutter ihren Mann kennenlernt und mit ihm das Dorf verlässt.

Was so entstanden ist, ist das Bild nicht nur eines Landstriches, einer besonderen Frau, sondern auch das einer mittlerweile untergegangenen Welt, erzählt als angeeignete Geschichte, die derjenigen gehört, die sie immer und immer wieder erzählt hat. Hackl hat die Geschichte seiner Mutter aufgeschrieben, um sie und diese verlorene Welt vor dem Vergessen zu bewahren. In dieser kleinen Chronik lässt er sie nicht nur auferstehen, sondern stellt auch die Frage, was Erzählungen bedeuten, wie sie eine Familiengeschichte ausmachen, mitbestimmen, wie das was erzählt (oder verschwiegen) wird, einen Teil der lebendigen Geschichte einer Familie ausmacht. Wie also Geschichten ein lebendiger Teil der Geschichte sind.

Erich Hackl
Dieses Buch gehört meiner Mutter
Diogenes
2013 · 128 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-257-06866-5

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