Lyrik für verschiedene Stimmen
Dreiundneunzig Jahre alt ist der polnische Nobelpreisträger Czesław Miłosz (1911 -2004) geworden und dieses lange vielschichtige, zwei Jahrhunderte berührende Leben spiegelt sich in seinen Gedichten wider. Er wurde in dem heute litauischen Dorf Šeteniai geboren, das damals zum russischen Zarenreich gehörte. Nachdem er zwei Weltkriege er- und überlebt hat, trieb ihn, der ursprünglich durchaus dem Kommunismus nahestand, der Stalinismus in Polen mehr als dreißig Jahre in die „Bitterkeit des Exils“. Erst nach Paris (1951), dann nach Berkeley in den USA (1960). Dort lehrte er an der Universität slawische Literatur. In Polen galt er lange Zeit als Abtrünniger, als eine persona non grata, nicht zuletzt wegen seines Buches „Verführtes Denken“, in dem er sich mit totalitären Regimen auseinandersetzte. Bis 1980 ignorierte ihn der polnische Literaturbetrieb weitgehend, erst nachdem er den Literaturnobelpreis bekommen hatte, wurde er nach Polen eingeladen und zunehmend gelesen. Nach der Wende ließ er sich endgültig in Krakau nieder.
Man solle Miłosz rückwärts lesen, rät Adam Zagajewski, der die Textauswahl zusammengestellt hat, in einem Nachwort dem Leser. Dann nämlich könne man besser wahrnehmen, dass „dieses majestätische Werk aus Atomen der Unruhe gebaut (ist), aus Momenten des Suchens des Zögerns – und der Begeisterung.“ Doch Zagajewskis Sorge, der Leser würde nicht merken, dass auch die späten Gedichte von Miłosz nur „scheinbar majestätisch“ sind, ist unbegründet.
Sein skeptischer Blick auf das Leben, die gleichzeitig detaillierte, liebevolle Betrachtung der Natur und seiner gesamten Umgebung, immer verbunden mit der Frage nach dem Sinn unseres Daseins, durchziehen die Texte des jungen sowie alten Miłosz. Sein Hauptthema ist, wie Artur Becker in der Zeitschrift „Zarys“ schreibt, die Frage einer „Eschatologie für unser Dasein.“
„Was ich geschrieben hatte, schien plötzlich / töricht“. Diese Zeilen, die sich wie ein Fazit anhören, hat Milosz schon 1934 als dreiundzwanzigjähriger Student in Wilna (Vilnius) geschrieben. Es ist das früheste in dem Band abgedruckte Gedicht und steht für die Zeit, als Miłosz zu einer Gruppe von Literaten gehörte, die als sogenannte Katastrophisten dem polnischen Nationalismus kritisch gegenüberstanden.
Eines seiner berühmtesten Gedichte „Campo di Fiori“ steht am Anfang einer Reihe von Texten, die Miłosz während des Zweiten Weltkrieges geschrieben hat oder unmittelbar danach. Er, der Besatzung und Krieg selbst nur knapp überlebte, stellt der Verbrennung Giordano Brunos die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto entgegen. „Ich dachte an Campo di Fiori“, schreibt er 1943 und weiter: „Der Wind von den brennenden Häusern“ / Blies in die Kleider der Mädchen, / Die fröhliche Menge lachte / Am schönen Warschauer Sonntag.“ Es geht ihm auch in anderen Gedichten um „das Alleinsein der Opfer.“ Und so wie in Miłosz Geburtsjahr Jakob van Hoddis die Welt so en passant untergehen lässt, so beiläufig lässt Miłosz 1943 „Frauen unter Sonnenschirmen übers Feld“ gehen.
„Was ist Poesie, wenn sie weder Völker / noch Menschen rettet?“, fragt er 1945. Er „möchte Feste“ beschreiben“, aber: „Ich höre Stimmen, sehe Lächeln. Ich kann nichts / Schreiben, weil fünf Hände / nach meiner Feder greifen / Und ihre Geschichte zu schreiben befehlen“.
Viele aufgeführten Gedichte stammen aus der Zeit in Berkeley. Es waren die Sechziger-, Siebzigerjahre mit Hippies, Marihuana und Demonstrationen. „Ein Gespräch mit Miłosz hingegen“, berichten Zeitgenossen, „lief früher oder später , unvermeidlich, auf die fundamentalen Themen hinaus: Gott, das Leben nach dem Tod, das Böse.“ (zitiert nach „Zarys“ 10)
Das Schöne aber an Miłosz‘ Gedichten ist, dass seine Poesie, selbst wenn sie sich mit philosophischen Fragen befasst, wunderbar sinnlich sind. Wie in „Sechs Lektionen in Versen / Lektion IV fangen seine Gedichte manchmal eher belehrend an: „Was tun wir mit der Wirklichkeit? Wo ist sie in den Worten? / Kaum blitzt sie auf, ist sie weg.“ Aber einige Strophen weiter wird konkret von „Fräulein Jadwiga“ gesprochen, deren „Skelettchen… der Ort ist / wo ihr Herz pulsierte.“ Und nur das ist ihm wichtig, schreibt er „Nur dieses setzte ich / Gegen Notwendigkeit, Gesetz, Theorie.“
Auch umgekehrt kann es den Leser erwischen. So kann er sich in der ersten Strophe des Langgedichts „Mit Trompeten und Zithern“ auf die schönen Bilder einer Landschaft einlassen: „ Im Morgengrauen dampfte das Wasser über Kalypsos / Insel, wo ein gelber Pirol in die Krone des grauen / Baums flog. / Ich blickte auf reglose Fischerkähne am anderen Ufer, / das Jahr hatte sich wieder gewendet und die Weinlese / begann.“ Aber in der neunten Strophe wird er in die schmerzliche Vergangenheit geführt, in „Halb versunkene Gemeinden, Namen, für niemanden / außer für mich: Ginejty, Jaswojnie, Opitoloki.“
Auch im Exil schrieb Miłosz auf Polnisch. Sie war ihm „Vaterland“, das er hegte und pflegte. „Meine treue Sprache, / ich stand dir zu Diensten. / Nacht für Nacht stellte ich Töpfe mit Farbe dir hin, / damit du die Birke, das Heupferdchen und den Dompfaff / habest, / die mein Gedächtnis bewahrt hat.
Die früheren Gedichte sind alle mit Jahreszahlen versehen, die späteren nur noch vereinzelt. Dennoch weiß man, dass er das in dem Band vorletzte Gedicht „Orpheus und Eurydike“ 2002 nach dem überraschenden Tod seiner wesentlich jüngeren Ehefrau Carol geschrieben hat. In seinem Nachwort nennt Adam Zagajewski diese Verse als Beweis, dass auch der alte Miłosz keineswegs nur abgeklärt sei. Und doch endet das Gedicht trotz der geschilderten Verzweiflung über Eurydikes und Carols Verschwinden mit einer versöhnlichen Sinnlichkeit: „Die Kräuter dufteten, tief klang das Summen der Bienen./ So schlief er ein, die Wange an der warmen Erde.“
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