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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Und dann waren da noch die Proteste

Istanbuler Notizen
Hamburg

Mely Kiyak hasst Istanbul. Das macht sie gleich zu Beginn des schmalen 120-Seiten E-Books klar. Trotzdem hat sie sich, stipendiumsgefedert, im letzten Sommer in Istanbul aufgehalten und eifrig Notizen in die schönen kleinen Hefte, die es laut ihr nur in der Türkei gibt, geschrieben und sie ins digitale übertragen.

„Istanbuler Notizen“: Reisetagebuch, autobiographischer Abstecher, Beobachtung und literarischer Kurzurlaub am Bosporus. Wer die Stadt noch nicht selbst besucht hat, gewinnt hier ein kleinen Eindruck der Millionenmetropole. Doch nur weil Kiyak türkische Vorfahren hat, ist ihr Istanbul nicht vertrauter, sagt sie. Sie selbst sei hier Touristin, sie selbst sei hier im Grunde genommen Fremde. Zwar spricht sie fließend Türkisch, kennt sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln geradeso gut aus, wie jemand, der eine Stadt oft besucht hat, aber Istanbulerin ist sie nicht. Sie nimmt damit eine Perspektive auf sie als Erzählerin vorweg, die man vielleicht als klischeehaft ab tun kann, aber zu Recht befürchtet werden muss. Sie verweigert sich dem Diaspora-Narrativ, das viele Deutschtürken verfolgen. Die Türkei ist nicht die verlorene Heimat, die viel zu selten besucht, und vermisst wird, so „richtig“ Türkin ist sie mit Eltern, die aus Ostanatolien kommen, auch nicht. Die „Identitätslage“, wie Kiyak es nennt, ist kompliziert. Dabei belässt sie es dann auch, denn was für andere kompliziert ist, hat sie schon lange verdaut. Ganz pragmatisch, ohne Krise, weiß sie wer sie ist, in der Gemengelage der Zuschreibungen, der Nationen, der Sprachen, der Herkunft. Eine süffisante Beobachterin nämlich, die sich ihren Themen immer mit einer enervierten Skepsis widmet (was auf der Meta-Ebene sehr nach Berliner Schnauze klingt).

Die Notizen sind in kleine Prosahappen gepackt, die man als Kapitel bezeichnen könnte. Mit Überschriften, die von einem +++ eingeklammert sind, wirken sie wie Eilmeldungen aus dem Newsticker. Der Nachrichtenwert der Überschriften changiert. Sie sind die Kopfnote des Texts, stimmen ein auf das was kommt, und zwinkern selbstreferentiell. Alles kein Kunstgriff.

Der Fokus der Kapitelchen ist immer ein anderer, Kiyak springt zwischen lästigen Mücken in ihrem Zimmer und politischen Betrachtungen der Gesamtsituation in der Türkei. Immer wieder verbindet sie detailliertes Beobachten mit größeren Themen, verwebt den Alltag der Menschen um sie herum mit dem großen Ganzen. Mikro- und Makrokosmos, schon, aber immer subjektiv durch eine Beobachterin gefiltert, die vorgibt sich nicht einmischen zu wollen.

Und dann waren da ja noch die Proteste. Viel Neues hat sie dazu nicht zu sagen, auch wenn sie live dabei ist. Ohne Facebook oder andere soziale Medien von den funkenden Graswurzeln der Proteste abgeschnitten, schliddert sie beim Einkaufen auf der Istiklal, der Einkaufsstraße im Herzen Istanbuls, schon mal in eine Kundgebung und muss sich durchfragen. Etwas Allegorisches liegt in dieser Szene: abgeschottet von den digitalen Feuerwerken und Ausrufen, ist sie mittendrin. Mitten in den Protesten, muss sich Informationen durch erfragen einholen und sieht was vor sich geht.

Ich selbst habe gute Freunde in Istanbul, habe die Stadt oft besucht und die Proteste vor allem durch Facebook und andere soziale Medien verfolgt. Mein gebrochenes Türkisch reichte zwar nicht aus, um in die Details zu gehen, aber da ich die Medien mit einem Freund durchforstete, der meine Verbindung zu Istanbul ist, hatte ich einen Simultanübersetzer. Für mich waren die Proteste eine Simulation, etwas, dass sich in den vier Ecken meines Bildschirms abspielte. Meine Betroffenheit und Empathie war durch digitale Informationen angefeuert - wendete ich mich vom Bildschirm ab, holte mich der Berliner Alltag wieder ein. Kundgebungen in Berlin, Solidaritätskationen und andere Zusammenkünfte auf der Straße, gaben mir zwar das Gefühl etwas zu tun - aber immer schwang der Beigeschmack des Bemüht seins mit.

Kiyak hat nicht nach den Protesten gesucht, sie kamen ihr einfach entgegen. Während sie Besorgungen machen will, rennt sie in Kundgebungen, wird von Wasserwerfern weggepeitscht und sieht wie sich Leute mit Zitronen und Milch das Tränengas aus den Schleimhäuten waschen wollen. Wie sie die Proteste erklärt, ihre Dynamik analysiert und bewertet, ist für jeden, der sich intensiver mit der Thematik befasst hat, keine Neuigkeit. Ihr unvoreingenommener Zugang aber ist interessant. Sie hält sich mit harschen Wertungen zurück und lässt stattdessen eine Vielfalt von Stimmen zu Wort kommen, um einen Einblick in die Komplexität der Bewegung zu geben. Wenn Kemalisten neben LGBTQ-Aktivisten für die gleiche Sache eintreten, dann ist das ein Novum im politischen Gefüge der Türkei. Ein Detail verschweigt sie, vielleicht aus Unwissenheit. Ein Detail, dass auch in vielen Medien nicht reflektiert wird: Der Symbolwert des Gezi-Parks, der Zündungsmoment des Protests, kam aus der LGBTQ-Bewegung, für die der Park als Cruising-Areal ein wichtiges Zeichen ist. Ein Refugium der sexuellen Freiheit, das es so in Istanbul kaum gibt. Indem sie den Gezi-Park verteidigten, begehrten sie gegen sexuelle Unterdrückung auf - und immer mehr Gruppen stimmten in den Protest ein.

Der Protest ist nicht Thema der „Istanbuler Notizen“, er ist Teil davon. Er wird genauso lakonisch-ernst aufbereitet, wie sozialkritische Beobachtungen gegenüber türkischen Frauen, die in ihr Handy schreien, dass sie gerade zum BEACH fahren. Statt des türkischen Worts plaj (aus dem Französischen entlehnt), jetzt ein Anglizismus. Konsum und Globalisierung haben Istanbul fest im Griff, darauf weist Kiyak gerne und oft hin. Der Fisch auf ihrem Fischbrötchen, das sie im Hafen isst, kommt dann auch nicht mehr frisch aus dem Wasser, wie in ihrer Kindheit, sondern aus Norwegen. Die Türkei ist im Umbruch und die Autorin war Zeugin eines wichtigen Sommers für die türkische Geschichte, doch sie lässt sich nicht nehmen, subjektiv ihre Notizen auch mit unterhaltsamen Anekdoten zu befüttern. Zusammengehalten wird der Text von ihrer Attitüde gegenüber der Welt, ihrer Skepsis und ihrer Amüsiertheit. Sie ist kritisch und witzig, fein und hart, aber immer subjektiv. Am Ende tritt Versöhnung ein, wenn Kiyak erzählt, dass sie jetzt gerne auf Türkisch liest und sich durch die Literatur der Realität eines Landes nähert, dem sie fremd und gleichzeitig vertraut ist.

Mely Kiyak
Istanbuler Notizen
Artwork: Sener Özmen Cover Design: Snowden
Shelff
2013 · 120 Seiten · 4,99 Euro
ISBN:
978-3-936738-90-2

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