Vom Sand in die Wolken
Auch im zweiten Roman von Joanna Bator bildet Walbrzych das Zentrum. Nach Sandberg, Bators ersten Roman, stellt Wolkenfern nun Dominika Chmura, Jadzias Tochter in den Mittelpunkt des Geschehens. Obwohl das nur zum Teil richtig ist, der eigentliche Mittelpunkt ist das kleine polnische Dorf. Angelpunkt der Sehnsucht und des Aufbruchs, Ausgangspunkt all der Fäden, die sich in so vielen Ländern weiterspinnen, um dann doch an genau diesem Ort wieder zusammen zu laufen.
Darum vielleicht zunächst einige Worte zu Walbrzych, das bis zum Ende des zweiten Weltkriegs Waldenburg hieß und zu Deutschland gehörte. Nach dem Ende des Krieges wurde Walbrzych von seinen deutschen Einwohnern verlassen, die alles zurückliessen, so dass die Polen, die sich dorthin aufmachten, eine Geisterstadt vorfanden, vollständig eingerichtete Häuser, aber keine Menschen.
„Ein Ort, in dem man in fremden Betten schlief und von fremden Tellern aß. Noch in meiner Jugend hieß die Hälfte der Dinge in Walbrzych „postdeutsch“, das „postdeutsche Bett“, „der postdeutsche Schrank“, erzählt Bator in einem Interview mit Iris Radisch.
Dominika erwacht nach einem Unfall in Deutschland aus dem Koma. Und nicht nur die Umgebung sondern das ganze Leben hat sich verändert. Während die Faszination die von den Zahlen auf die junge Frau ausging, verloren ist, und ihr, die früher davon geträumt hatte, eine weitere Primzahl ausfindig zu machen, Zahlen nun nur noch als Ziffern, als Hilfsmittel für das tägliche Leben erscheinen, hat sie andererseits eine ganz besondere Ausstrahlung gewonnen. „Jeder, dem Dominika seit dem Erwachen aus dem Koma begegnet ist, behauptet, sie erinnere ihn an einen Menschen, den der Betreffende verloren hatte, das mochten Großeltern sein, erwachsene Menschen beiderlei Geschlechts, aber auch Kinder, die als Säuglinge gestorben waren, und sogar geliebte Haustiere, so als vereine Dominika Chmura als Person alle möglichen Ähnlichkeiten und wecke Sehnsucht nach dem, was verloren war.“ Als hätte sie sich also durch diesen Unfall tatsächlich in eine Wolke verwandelt, in der jeder etwas anderes erkennt.
Dominika kommt wieder auf die Beine, nachdem ihre Mutter nach Polen zurück gekehrt ist, bleibt sie noch eine Zeitlang bei Grazynka, die aus demselben Dorf wie kommt, ein Findelkind mit einer faszinierenden Geschichte und einem Charakter, der Dominika weitaus näher ist, als der ihrer Mutter. Während Dominikas Mutter alles hortet und festhält, auf erdrückende Weise bemuttert, „betrachtete Grazynka Verlust als einen ebenso unverzichtbaren Teil des Lebens wie schöne Überraschungen.“
Als Dominka schließlich aufbricht, hat sie wenig mehr im Handgepäck als eine Kamera, überhaupt spielen Fotografen und Fotografien eine nicht unerhebliche Rolle in diesem von Ideen, Menschen und vor allem Geschichten übervollen Roman, in dem der Leser durch Zeit und Raum reist, um überall wieder dem Kontrast zwischen den Frauen zu begegnen, die horten und denjenigen, die frei sind, Nomaden, die begriffen haben, dass sich die Dinge, die wirklich etwas bedeuten, ohnehin nicht festhalten lassen. Nicht in Form von etwas Materiellem jedenfalls, sondern bestenfalls als Geschichten. Den Geschichten, die in diesem Buch weibliche Lebenswelten konstituieren. Und in Bators Roman verbinden sich diese Geschichten auf wunderbare Weise, die Sirenen, denen Odysseus mittels einer List trotzt, führen zu den „Teetanten“, die sich, nachdem sie Grazynka aufgezogen und vor vielem bewahrt haben, nach einer letzten Schutzmaßnahme für das von ihnen angenommene Kind, in Nixen verwandeln. So changiert „Wolkenfern“ zwischen genauer Beobachtung und märchenhaften Elementen. ,
Es ist (mir) unmöglich den Verlauf dieses Romans auch nur ansatzweise nachzuerzählen, jedenfalls lernt Dominika mehrere Länder und zuletzt auch das Heimweh kennen, ein kleines Dorf in Bayern, New York und London sind nur einige der Stationen, an denen Dominika Halt macht, um ein paar Geschichten zu sammeln, bevor sie erneut aufbricht. Sie arbeitet als Vorleserin für eine alte jüdische Dame, als Barfrau und nimmt schließlich, wenn auch nicht ganz aus eigener Initiative, ein Studium auf. Malgosia, eine Freundin aus Kindertagen, hatte ihre Fotos zu einem Wettbewerb eingereicht, der Gewinn bestand u.a. in einem Studienplatz inklusive Stipendium. Als sie Dominika davon unterrichtet, sagt diese: „ Ich danke dir, aber mach so etwas nicht noch mal, (¡K), versprich, dass du mich nicht mehr retten willst, versprich, dass du jetzt etwas für dich selbst tust. Nicht irgendeinen dämlichen Plan wie die Besichtigung der sieben Weltwunder, sondern etwas, was du wirklich willst.“
Dominika, die von der Hand in den Mund lebt, nie weiß, wie lange sie bleiben wird, nur, dass es nicht für immer sein wird, erscheint viel ausgeglichener als diejenigen, die planen und ihren Blick immer auf die Zukunft richten, eine Zukunft, die so fixiert, keine Chance hat, sich zu entfalten, die wenig mehr als Pflichterfüllung ist, weit entfernt von den Geschichten der Vergangenheit, in denen man sich vergraben kann, um dann der Gegenwart ein für andere unvorstellbares Maß an Gelassenheit entgegen zu bringen.
Auf der griechischen Insel Karpathos, nach der sich Dominikas Zimmerwirtin in London auch nach fünfzig Jahren in England immer noch leidenschaftlich zurücksehnt, treffen viele der wichtigsten Personen des Romans noch einmal zusammen, bevor sie erneut in ganz unterschiedliche Richtungen aufbrechen.
Und auch Napoleons Nachttopf findet zu guter Letzt zu seinem rechtmäßigen Erben zurück.
Der Leser aber blickt zurück auf ein buntes Geflecht von Fäden, das Menschen, Länder und Zeiten verknüpft, frei wie die Wolken, die dahintreiben, oder sich zusammenrotten, bevor sie sich trennen und auflösen, um sich irgendwann später neu zu erfinden.
Esther Kinsky hat die polnischen Wolken behutsam und gewohnt gekonnt in den deutschen Sprachraum überführt.
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