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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Nach Haarfarben geordnete Frauen

Hamburg

An manchen Menschen gehen Witze vorbei. Sie verstehen sie nicht, sie lachen zu spät oder gar nicht. Während andere sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen und einen Witz nach dem anderen erzählen können, sitzen sie wie gelähmt daneben und finden sie keinen einzigen in ihrem Hirn. Da ich auch zu dieser Spezies der Witzlosen gehöre: Wir können uns jetzt mit einem Buch trösten: Die Erbschaft von Zsuzsanna Gahse.

Die aus Ungarn stammende Schriftstellerin lebt in der Schweiz. Zehn Jahre, von 1946 bis 1956 hat sie in Budapest gelebt. Eine Zeit, die von der kommunistischen Diktatur geprägt war. Eine Zeit, in der die Witzlandschaft blühte. Der Witz als Reaktion politisch Unterdrückter. Selbst solch Witzlose wie ich, konnten in der DDR ein, zwei Witze über unseren obersten Dachdecker Erich Honecker erzählen. Aber wer kennt einen Witz über Angela Merkel? Zsuzsanna Gase hat offensichtlich als Kind die Ohren aufgesperrt und ihr Sensorium für Witze trainiert. Sie hat die Erbschaft der Reaktion auf die heimische Diktatur angenommen, so scheint es zumindest. Denn in der Szenerie, die sie vor uns ausbreitet, auf der „Bühne“, treten ihre Mutter, ihr Vater, ihre Schwester und sie selbst auf. Ein dunkelgrüner Vorhang, der zur Pointe fällt, trennt die Erzählenden vom Zuhörer Giovanni.

Giovanni, auch Hans, auch Juan ist auf anderen Schauplätzen selbst Handelnder, da erzählen sich Erzählerin und Giovanni gegenseitig Witze. Der Witz als Miniroman mit starker Pointe. Doch geht es nicht darum, Witz an Witz zu reihen, sondern um die Erzählhaltung. Etwa einen ungarischen Witz auf Deutsch zu erzählen, wie es die Mutter versucht. Er geht im Deutschen nicht. Die Mutter wird von den Familienmitgliedern verbessert, der Witz wird nicht besser. Es werden Varianten eines Witzes erzählt. Das Umfeld immer detailreicher, dabei wird der Witz immer dünner. Hier wird deutlich, der Witz ist eine mündliche Erzählform. Es kommt auf den Erzähler an! Ein guter Erzähler kann ausschmücken, abschweifen, um dann überraschend die Pointe einzuwerfen. Der normale Witze-Nacherzähler hält sich an das vorgegebene Muster. Und mancher Witzeerzähler lacht schon vorher so, dass er sich seine Pointe versaut. Aber selbst das funktioniert, denn in diesem Fall lachen die Hörer über den Erzähler. Und da jeder mit seinen eigenen Worten das mit seinen eigenen Ohren Gehörte weitererzählt, kommt es zu dem kurzen Witz „ein Ehepaar erzählt einen Witz“, jeder weiß, was gemeint ist. Siegmund Freud spricht in seiner Abhandlung: „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ vom Lachen als Verdrängung, der Erzähler und der Lacher verdrängen eigene Schwächen, indem sie über Dritte, z.B. über das witzeerzählende Ehepaar, lachen. Sie fühlen sich für einen lachenden Moment besser, überlegen.

Gahse führt das in „Erbschaft“ weiter, indem sie einen Anfang erzählt, aber nicht weiter weiß: „Ein Mann kam den Gehweg entlang mit einer großen Gurke unterm Arm. Wie der Witz weitergeht, weiß ich nicht.“ Da ist der Wunsch, an der Überlegenheit teilhaben zu können, indem man selbst etwas beisteuert. Ein abgebrochener Witz ist schlechter als keiner. Er entlarvt den Erzähler. Aber die Autorin fürchtet sich nicht davor, entlarvt, erkannt zu werden, sie zeigt in diesem seltsamen Bändchen Mechanismen auf. Der Hörer Giovanni-Hans-Juan kritisiert: Das ist kein Witz, das ist ein Lied. Dann inszeniert er. Verlangt eine Drehbühne, sagt, wer, wann wo auftreten soll und was er erzählen soll. Sogar, wer im Hintergrund lacht: Polen, Esten, Dänen lachen über den Witz, „weil sie nicht beteiligt sind“.

Schließlich gibt es ein „gelbes Buch, ähnlich den gelben Telefonbüchern mit den Firmenregistern“. Nach Kulturen und Ländern geordnet, nach Topografie und Sprachen, nach Staatsformen und Religionen. Giovanni liest der Ich-Erzählerin daraus vor. Das Kapitel über Frauen ist nach Haarfarben geordnet. Motive zum Witzeerzählen seien Selbstironie (Witze von Juden über Juden) Ohnmachtsgefühle (Witze über Stalin), „regional auch die pure, bloße, nackte Häme“.

Das schöne Büchlein vom Wiener Verlag Edition Korrespondenzen in englischer Broschur, mit seinem dunkelgrünen Schutzumschlag den „dunkelgrünen Vorhang“ auf der Witzebühne aufgreifend, ist liebevoll gestaltet. Die Zürcher Illustratorin Anna Luchs hat nicht nur im Anhang „Auftritte“ im Stile von Kostümbildern die Personage gezeichnet, sondern auch einzelne Witze erklärend illustriert. Beispielsweise den von der Begegnung eines Indianers mit einem Cowboy. Selbst mir Witzlosen erschien der Bart dieses Witzes recht lang. Aber die Unterhaltung der beiden - im mündlich erzählten Witz werden an dieser Stelle Gesten eingesetzt - wird kongenial durch die Zeichnungen ergänzt und ich konnte wieder darüber lachen. Im Witz heißt es: Der Indianer macht so: ausgestreckter Zeigefinger, darauf macht der Cowboy so: zwei ausgestreckte Finger usw. Seine Pointe erhält der Witz durch die jeweilige Interpretation der Gesten durch den Cowboy und den Indianer, als sie ihren Frauen von der Begegnung erzählen.

Es ist nicht ganz einfach, dieses Buch zu lesen. Es ist nicht einfach zwischen den Eisenbahnwitzen, Klein-Fritzchenwitzchen, den Judenwitzen, politischen usw, den Faden zu behalten, was Zsuzsanna Gahse zwischendrin an Interpretationen, an eigenen Überlegungen verpackt hat. Einiges davon wird über die Figur des  Giovanni-Hans-Juan-Hannes transportiert, der zunehmend vom Zuhörer zum Gestalter der Szenerie wird.

„An einem müden Morgen sagte Juan, dass man die Schmetterlinge entlarven sollte.“ Es folgt die Betrachtung, dass „Erinnerungen beim Neuerzählen instabil werden“. Aber sind Witze Erinnerungen? Vielleicht, sage jetzt ich Witzlose, eine Art der kollektiven Erinnerung.

Am Ende wird Giovanni ins Uralgebirge gehen, um neue Witze zu sammeln. Denn die Witze sind Erbschaften. Eine „Zueignung“. Vielleicht besonders an uns Witzlose.

Zsuzsanna Gahse
Die Erbschaft
Mit Zeichnungen von Anna Luchs
Edition Korrespondenzen
2013 · 64 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-902113-00-9

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