Für die Sinne
Aus der Dämmerung erhebt sich
schlafend ein Riese, die Stunde
sie kostet nichts und liegt leicht
in der Hand, ein Spatz späht
über die Dächer zum Watt
dann warten sie, Riese und Spatz
auf Flut und Belagerung
gewiss werden sie kommen
gewiss wieder verschwinden
Das Gedicht Mont St. Michel gibt die Richtung in Adrian Kasnitz‘ neuem Gedichtband vor. Zwischen Ebbe und Flut gelegen, passt sich der Rhythmus der Verse den Gezeiten an. Die wiederkehrenden Bewegungen der Meeres- und Besucherströme gehen über die kleine Insel hinweg. Von Dämmerung zu Dämmerung holt sie sich die Erhabenheit zurück, die sie tagsüber verliert. Und man fragt sich, wie viel Respekt man einem Ort entgegenbringen kann, den man nur auf der Durchreise besucht.
Vom Mont St. Michel, dem westlichsten Zipfel der Basse-Normandie, reiste der Autor in die Bretagne, genauer in die kleine Stadt Concarneau. Hier entstanden die 21 Gedichte, die unter dem Titel Sag Bonjour aus Prinzip in der Corvinus Presse erschienen sind. Es sind Gedichte einer Reise, denen allen ein Moment der suchenden Bewegung gemein ist, ohne dabei auf ein Ziel fixiert zu sein. Ein neugieriger Schwebezustand zwischen Treibboje und Außenborder. So bewegt sich das Ich dieser Texte respektvoll zwischen Strand und Café, rauer Küste und Efeukneipe. Die Natur ist in allen Texten dominant, ohne dass dadurch bloß beschreibende Naturgedichte entstehen würden. Die Bewegung in der Landschaft wird vielmehr zum reflexiven Element, schließlich zur Frage was die Umgebung aus den Menschen macht – und umgekehrt.
Tronoën, Calvaire
Diesen Granit gegen das Meer zu türmen
war die Idee von Besessenen
wie sie
Steine schleppten und aufschichteten
hier am Weltende wo das Rauschen
wie sie
ihr Werkzeug holen und den Stein behauen
hier am Weltende wo der endlose Ansturm
alles Alltägliche ausstreicht uns sieh
Maria im Kindbett
sieh Jesus wie er einen Ball hält
um mit seinen Freunden loszustürmen
Neben der Annäherung des eigenen Pulses an die Landschaft ist in Kasnitz‘ Gedichten immer auch eine besondere Sensibilität für die Geschichten und die Geschichte der Bretonen zu spüren. Auffällig wird das in dem bereits erwähnten Gedicht Efeukneipe, in dem „tanzt Yvi zur Musik […] wie vor vierzig Jahren“. Man erinnert sich mit ihr an die Festivals auf der nicht allzu weit entfernten Isle of Wight, doch die Freiheit von damals ist jetzt „Asche und Staub / liegt auf den Boxen den selbst die Bässe nicht aufschrecken wollen“. Die Beobachtung der Menschen erschöpft sich aber nicht in den Kneipenschicksalen, die man auch andern ortes finden kann, sondern schlägt bisweilen einen Bogen in die Historie der französischen Küste. Wie z.B. in dem Gedicht, das dem Band seinen Titel gibt:
Rue de la Libération
Westwind reißt am Haar, Besucher
läuft durchs Städtchen, Straße der Befreiung
hinauf und hinab zu den Felsen
der Befreiung und der aufgerissenen Füße
Ölfilm, von dem ein Rentner schwafeltAlter Seemann sagt Bonjour
aus Prinzip, sagt Bonjour aus Gewohnheit
zum West, zu den Felsen
zum Besucher, der nicht schießt
nur mit wunden Füßen läuft
Kasnitz‘ bretonische Gedichte sind fein gearbeitete Bilder einer Reise, die nicht nur dazu einladen diesen Teil Frankreichs zu entdecken, sondern auch dazu auffordern auf künftigen Reisen Augen und Ohren auf vollen Empfang zu stellen. Der handwerklich gearbeitet Band unterstreicht diese Aufforderung der Sinne. Mit fünf Illustrationen von Sybille Schwarz versehen, erscheint Sag Bonjour aus Prinzip auf hochwertigem Papier und mit japanischer Bindung in 180 nummerierten und signierten Exemplaren.
Außerdem gibt es eine Vorzugsausgabe:
22 Exemplare, Handeinband mit 2 O-Radierungen, 2 O-Linolschnitten und O-Linol.-Vorsätzen, einer O-Zeichnung (ganzseitig), alles signiert und einer handschriftlichen Sequenz (eine Gedichtstrophe, welche dem Band den Namen gibt) vom Autor geschrieben – 250,-€
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