Anzeige
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
x
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Vom Erkunden und Staunen

Hamburg

Ginge es nach Clemens J. Setz, Jean-Henri Fabre hätte vor rund hundert Jahren den Literaturnobelpreis »in Anerkennung für sein monumentales, von tiefem Verständnis für die hohen philosophischen Ideale der Natur geprägtes Werk Souvenirs entomologiques« zuerkannt bekommen. Ein Werk, das sich hinausbegibt; hinaus in die Natur, die dem Menschen für gewöhnlich locus amoenus, Ort der Erholung, des Ursprungs, des Unbekannten und der Sehnsüchte ist, wie auch des Wilden, Wuchernden, stets nur temporär Gebändigten. Dass sich Fabre jedoch mit derart romantischen Naturvorstellungen keineswegs zufrieden gab, beweist die bei Matthes & Seitz – bereits seit 2009 – erscheinende Werksausgabe der Erinnerungen eines Insektenforschers (in der Übersetzung von Friedrich Koch) mit jedem Band aufs Neue. Darin lenkt er den Blick auf die artenreichste Gruppe von Lebewesen und lässt die LeserInnen teilhaben an den Beobachtungen einer »unzählbare[n] Population, die kommt und geht und summt und surrt. « Doch bleibt Fabre nicht bei der reinen Beobachtung stehen, die – wie er meint – nur dazu verleiten würden, sich in nebulöse Allgemeinheiten zu ergehen und dadurch die Ansichten und Meinungen der Menschen zu unterstreichen. Sondern er stellt Experimente an, macht sich zu mühseligen Expeditionen in die Wälder und Umgebung auf, und während des Lesens scheint es nach und nach, als könne man entlang der Zeilen tatsächlich etwas kriechen, schwirren oder springen sehen.

Illustration: Christian Thanhäuser

Fabre, der 1823 in Saint-Léons du Lévézou geboren wurde und die letzten fünfdreißig Jahre seines Lebens in Sérignan-du-Comtat verbrachte, wo er an den Entomologischen Erinnerungen schrieb, war sich wahrscheinlich stets einer gewissen Notwendigkeit literarischer Mittel bewusst. Bezüglich des »Zyklopenkauderwelsch« der Wissenschaft und deren barbarische Fachausdrücke, die »die Seite zu verstopfen drohen«, heißt es etwa, dass er lieber »wie alle reden will, damit alle [ihn] verstehen«. Nicht nur die Fachwelt wollte er für Mörtel- und Mauerbienen, Dolchwespen, Rosen- und Ölkäfer begeistern (jener Fachwelt, der er gleichzeitig auch anhand der Insekten beweisen wollte, Charles Darwin sitze mit seiner Theorie zur Entstehung der Arten einem Irrtum auf) – Auch all jenen, die sich normalerweise nicht unbedingt mit der Natur und den Lebewesen beschäftigten, galten seine detailreichen Aufzeichnungen. Und gerade Fabres eigene, in den Sätzen spürbare Neugierde und Bewunderung sind es, die diese Erzählungen und Forschungsberichte, Kindheitserinnerungen und Gattungsbiographien, Experimente zum Geschlecht der Insekten und ihrer Larven sowie Gedanken zum Parasitentum noch heute so erstaunlich machen. Indem er den Gegenstand seiner Betrachtungen ganz subjektiv ernstnimmt, gelingt es ihm, dass man ihm begeistert folgt und glaubt, um mit ihm beispielsweise die Lebenszyklen der Trauerschweber zu erkunden, ihre verschiedenen Larvenstadien, oder die Abhängigkeit des Geschlechts von Raumbedingungen. Sorgfältig und ausdauernd sieht man ihm dabei zu, wie er auf Ausflügen seine Taschen mit Nestern füllt, um sie bei sich zu Hause eingehend studieren zu können; sieht ihn, wie er Rückschläge einstecken muss, bis ein Experiment endlich gelingen will, und sich dennoch kein einziges Mal davon abschrecken lässt.

Auch wenn Jean-Henri Fabres Werk entgegen Setz’ Nachwort nicht die Würdigung durch den – in Wirklichkeit überhaupt nicht vergebenen – Literaturnobelpreis 1914 erfuhr; auch wenn Fabres vehemente Einwände gegenüber Darwins Evolutionstheorie längst entkräftet sind zugunsten einer wissenschaftlicher Verifikation der Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Lebewesen von Generation zu Generation – Die Erinnerungen eines Insektenforschers werden schon allein aufgrund Fabres Faszination an der Natur in Erinnerung bleiben, und es ist Matthes & Seitz, Friedrich Kochs Übersetzung und den Federzeichnungen von Christian Thanhäuser zu verdanken, dass sie es auf so schöne Weise tun.

Jean-Henri Fabre
Erinnerungen eines Insektenforschers Bd. 1-6
Souvenirs entomologiques
Aus dem Französischen von Friedrich Koch, bearbeitet von Heide Lipecky Mit Illustrationen von Christian Thanhäuser
Matthes & Seitz
36,90 Euro

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge