Kann Lesen zur Droge werden?
Der Erzähler ist über siebzig Jahre alt, wie wir im Laufe des Romans erfahren, und heißt Rupert Mayrhofer. Früher ging er regelmäßig zum Stammtisch, traf dort seine Freunde, die eigentlich keine Freunde waren, denn man saß bloß zusammen und quatschte, das Private blieb weitgehend ausgeklammert. Noch früher war er Anwalt, nämlich einer, der sich für arbeitsrechtlich Benachteiligte einsetzte, um ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Als Anwalt wollte er nie „nach Höherem streben“, hatte keine Ambitionen, ein „Staranwalt“ zu werden. „Streber war ich auch in der Schule keiner gewesen“, weshalb er von manchen Kollegen belächelt wurde. Was aber nicht bedeutete, dass er ohne Ehrgeiz oder Ambitionen war, „bloß für meine Ellbogen entwickelte ich keine Taktik.“
Eines Tages stellte er fest, dass er eine erkleckliche Anzahl seiner Bücher noch nicht gelesen hatte. Bücher, die ihn interessierten oder die ihm jemand empfohlen hatte – schließlich hatte er sie gekauft, um sie irgendwann einmal zu lesen. Jedoch aus allerlei Gründen war es bisher nicht dazugekommen: „Der Mann ohne Eigenschaften“ hatte ihn wegen seines Umfangs geschreckt, auf manche Bücher hatte er vergessen, sodass sie in seinem Bücherregal Staub ansetzten. Immerhin hatte er auch andere Dinge in seinem Leben zu erledigen, wurde von so manchem abgelenkt, sich dem Lesen zu widmen.
Bis er die Entscheidung traf, dem Stammtisch fernzubleiben und stattdessen zu lesen. Lebensmittelvorräte lagerten tiefgekühlt, demnach musste er seine Wohnung nicht verlassen. Da er nicht den ganzen Tag lesen konnte, begann er, ein Tagebuch zu verfassen. Mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ eröffnete er sein Leseritual. Ein Buch, das man gelesen haben musste – oder wenigstens behaupten sollte man, es gelesen zu haben. Seine Nachbarin, die Hofratswitwe, lud ihn ein zu Kuchen und Kaffee, damit er ihr erzähle, worum es in diesem Buch ging. Sie erwartete sich eine Zusammenfassung, zu der sich Rupert aber nicht imstande fühlte, denn inzwischen war er bereits bei Stendals „Rot und Schwarz“ angelangt, hatte vom eigenschaftlosen Mann lediglich den ersten Band bewältigt.
Schon bald stellte Rupert sich die Frage: „Ist das Lesen nicht eine Art von Droge? Sollte auf den Einbänden nicht ein warnender Hinweis stehen: Lesen kann Ihre Gesundheit gefährden oder Ihr soziales Verhalten beeinträchtigen! Wenden Sie sich vertrauensvoll an Ihren Arzt oder Buchhändler. Zumindest in den USA müssten Bücher nach mehreren spektakulären Prozessen gegen Verlage längst durch entsprechende Warnhinweise gekennzeichnet sein.“
Also notierte er: „Wo liegt der Unterschied zwischen einem Opiumraucher und einem Leser? Beide entfliehen ihrer konkreten Umgebung und tauchen in eine andere Welt ein, in der Hoffnung, es wäre eine bessere. Eskapismus. Auf den Opiumraucher – ich habe hier zwar keine einschlägigen Erfahrungen – mag es zutreffen, dass er für die Zeit seines Rausches der Realität seines Lebens entfliehen will; ich hingegen kehre gern aus Kakanien wieder in meine Wohnung zurück.“
Dann und wann besuchte ihn sein Stammtisch-Freund Fritz, weil sich die Stammtischler Sorgen um ihn machten. Um zu demonstrieren, dass sie ihn nicht vergessen hatten, brachte Fritz immer wieder ein Schnitzel vom Stammtisch mit, dazu ein paar Flaschen Wein.
Rupert hatte inzwischen von Jorge Amado „Der große Hinterhalt“, von Alejo Carpentier „Le Sacre du printemps“ und von Klaus Mann „Der Vulkan“ hinter sich gebracht, gegen den er einiges einzuwenden hatte, als ein Stammtisch-Kumpel ins Spital eingeliefert wurde und ein Besuch angesagt war, obwohl er den Kollegen eigentlich nie gemocht hatte. Nachdem Rupert „Franziska“ von Ernst Weiß und „Kindheit“ von Nathalie Sarraute gelesen hatte, stand das Begräbnis des ihm unsympathischen Kollegen, der immer gegen Ausländer geredet hatte, auf dem Programm, und schon wieder musste Rupert seinen „Maulwurfshügel“ temporär verlassen.
Mit Frauen hatte es in Ruperts Leben nie so richtig geklappt, eine Geliebte war zu einem Kollegen übergewechselt, eine andere, sie war Apothekerin, hatte sich auf einer Tagung von einem Peruaner schwängern lassen. Dafür entwickelte sich die benachbarte Hofratswitwe mehr und mehr zu Ruperts Kontaktperson. Gewissenhaft notierte er in seinem Tagebuch, was er gelesen und geträumt hatte. Zudem sickern immer wieder Details seines Lebens durch, dass er Pianist werden wollte, dass er das Erbe seines Vaters abgelehnt hatte, nachdem dieser – ohne den Sohn zu informieren – das Elternhaus verkauft hatte und in ein Altersheim übersiedelt war. „Einige Tage lang ärgerte ich mich, überlegte, ob ich nicht nachhause fahren sollte, um zu schauen, was sich noch finden ließe, verwarf dann aber glücklicherweise den Gedanken… Mutters Schmuck interessierte mich nicht, schon gar nicht das Bleikristall.“
In Samuel Becketts „Molloy“ schien ihm, dass es sich dabei um seine eigene Geschichte handelte. Da Rupert seine Bücher stets als etwas Wertvolles betrachtete – Leute, die anstatt ein Lesezeichen zu verwenden, Eselsohren in ihre Bücher machen, waren ihm zuwider –, überlegte er auch, wer nach seinem Ableben seine Bibliothek erben sollte. Die Hofratswitwe kam aufgrund ihres Alters nicht infrage, sehr wohl aber als Bewahrerin seines Testaments. Womöglich die Studenten, die im Stockwerk über ihn wohnten?
Bei Jean Pauls „Siebenkäs“ brechen Ruperts Aufzeichnungen ab. In einem Nachspann erfahren wir, dass eine Studentin das Erbe antrat und sein Tagebuch für lesenswert erachtete. Tatsächlich ist Helmut Rizys Roman über einen Dauerleser nicht nur amüsant, vielmehr eine Parabel über ein Leben zwischen und mit Büchern.
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