Liebe und andere Absurditäten
In seinem Versepos „Leila und Madjnun“ widmet der persische Dichter Nizami der Annäherung zweier Liebender und ihrer Vereinigung gerade mal zwei Kapitel. In den restlichen 52 geht es um das Liebesleid, es geht vor allem um den armen Madjnun (zu deutsch „verrückt“), der sich in seinem unerträglichen Liebeskummer auf alle nur erdenklichen Arten zum Deppen macht – ein tragikomischer Held in den Wirren des Gefühlskriegs, noch heute stellvertretend für jeden unglücklich Liebenden in der (persischen) Literatur. Natürlich greift der Kölner Schriftsteller Navid Kermani dieses Motiv in seinem Roman „Große Liebe“ auf, in dem sich ein Schriftsteller Mitte vierzig an sein fünfzehnjähriges Ich erinnert, das gerade seine erste Liebeserfahrung durchleidet, von der gespannten Vorfreude, über die Magie des ersten Kusses bis zum vernichtenden Schlag der ersten Zurückweisung durch die Geliebte: eine Erinnerung, die jeder hat, und an die jeder zugleich mit Nostalgie als auch mit einem Schmunzeln zurückdenkt.
Und wenn Kermani seine bild- und gefühlsstarke Erzählung mit Zitaten von Nizami, Attar, Ibn Arabi, Ghazali oder Walad begleitet, dann wird schnell klar: Im Grunde hätte man das Thema Liebe in der Literatur nach den Klassikern ad acta legen können, denn sie haben dazu längst alles gesagt, was es zu sagen gibt, teils schon vor über tausend Jahren. Die Welt hat sich verändert, aber die Malaisen, die Verliebte, Liebende und Verlassene durchleben, sind auch heute noch exakt dieselben wie damals. Jeder Mensch sitzt dem Irrtum auf, was er durchlebe – die Hochgefühle ebenso wie die Schmerzen – sei etwas Individuelles. Während Christa Wolf in „Der geteilte Himmel“ sagt, es gebe nur eine große Liebe im Leben, sagt Kermani, dass keine Liebe so groß empfunden wird wie die erste, so marginal sie tatsächlich auch sein mag. Vielleicht haben beide Recht, vielleicht fallen auch beide nur auf die Suggestionen ihres Gefühlslebens rein, an die man ja so gerne glauben möchte, während man es längst besser weiß.
Der Fünfzehnjährige im Roman jedenfalls verfällt hoffnungslos der Schulhofschönheit, die aber leider vier Jahre älter ist und sich ganz bestimmt nicht für ihn interessieren wird (fürchtet er). Die Annäherung findet auf dem Raucherhof der Schule statt, von dem die Lehrer den Mittelstufler immer wieder verscheuchen. Das Setting ist ein erzprotestantisches deutsches Kaff zu Anfang der Achtziger, die Schulhofschönheit eine Rebellin, die in einer Studenten-Hippie-WG Unterschlupf gefunden hat und gegen den NATO-Doppelbeschluss ebenso protestiert wie gegen die geplante Stadtautobahn; sie hat eine niedliche Zahnlücke, er trägt orthopädische Birkenstocks und bunte Strickpullis – wie das halt damals so war, wenn man jung war. Das Portrait jener Zeit kommt bei Kermani ebenso augenzwinkernd daher wie die Untiefen der ersten Gefühlswallungen eines Pubertierenden, und was auf den ersten Blick furchtbar überzeichnet wirkt ist auf den zweiten doch viel näher an der Realität als man sich vielleicht eingestehen möchte.
Am Ende währt die „Große Liebe“ kaum eine Woche, und der Erzähler wird zum Madjnun, wie jeder Verlassene seither, und warum er verlassen wurde, das weiß er bis heute nicht, aber ist das überhaupt wichtig? Man giert nach Erklärungen, doch die können das Leid allenfalls verschlimmern. Navid Kermanis Roman arbeitet sein Sujet mit großer Selbstironie ab, und die Verwebung der universellen Erzählung des amourösen Erwachens mit den persischen Klassikern macht Lust, sich eben jene als nächste Lektüre vorzunehmen.
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