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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Letzte Einkehr, oder: Was es bedeutet, zu sein.

Imre Kertész’ Tagebücher 2001-2009
Hamburg

„Letzte Einkehr“: Es gibt wenige Bücher, die derart beeindrucken, ja, und bedrücken in ihrer seltsamen, waghalsigen Balance von Trauer und Zugewandtheit, Atemholen und Grimm. Symbolisch bereits auf dem Cover des Bands kenntlich, beherrscht das flächigem Schwarz der Mühsal des Alltags diesen Dichter, der mit sich und den Dingen hadert, dem die Melancholie, mehr noch die düstere Sichtung, Ausdeutung der europäischen Zustände zusetzen. Jenes Schwarz aber ist mit goldenen Lettern geprägt – wie mit hellen Momenten, vitalen Visionen, die oft genug abbrechen oder verstummen wie das titelgebende Fragment, sich in die Stille zurückziehn und nicht ohne Bedauern über die viele „vertane Zeit“.

Dieses Bedauern und die Absage sind de facto als Wiederholungsschleife geschaltet in den kapitelartig angeordneten Tagebuchsequenzen der Jahre 2001-2009 wie auch dem ‚finalen Versuch‘, mit „Die letzte Einkehr“ einen Prosatext zu verfassen, der an die Stelle führt, an der „schließlich nichts mehr übrig bleibt“; konterkariert eben von aufspringenden Ideen zur Fortführung des Werks, in aller Konsequenz, zugleich der lähmenden Gabe der Entzauberung. In Imre Kertész’ Werk gerinnt die Kunde vom Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts und festigt sich zugleich der Ruf von der möglichen Würde des Menschen: quasi, und über die Wüsteneien der Verzweiflung, des Dagegenhaltens hinweg, als ‚Trotzalledem‘.

Kertész: heute, endlich, bewundert, gewürdigt und verehrt, war lange und ist teils immer noch umstritten, in seiner Geburtsheimat Ungarn (s. Eintrag vom 21. 03. 2005: „Mich interessiere nicht, was es bedeutet, Ungar zu sein, wird gesagt. Nein, sage ich, mich interessiert, was es bedeutet zu sein.“) ist der Hiatus zwischen Ehre und Kritik bis zur äußersten Anfeindung wohl am gewaltigsten. Dennoch hat Kertész, wie das Tagebuch beweist, auch einigermaßen unbeeindruckt von äußeren Einreden, mit erstaunlicher Vehemenz und zum Teil schmerzvoller Geradlinigkeit ein Werk geschaffen, in dem, von ihm selbst immer wieder am meisten in Frage gestellt, es eben um die Würde geht und um Wege, mit dem lebenslang nachklingenden Schmerz der Demütigung und des Entsetzens umzugehen.

„Letzte Einkehr“ gerät in der Nachfolge der beiden  früheren Selbstverständigungen, dem „Galeerentagebuch“ (1992) und dem „Dossier K.“ (2006) so zum erschütternden Dokument über das Ringen des Dichters mit seinen Zweifeln, um seine Gesundheit, ja, und die Ambivalenz von Überdruss und Genuss an den späten Ehren; mit der Anwesenheit von Glück und dem Zurandekommen mit dem Nicht-Glück. Da ist die Ehrung mit dem Nobelpreis 2002, der eine weitere Reihe von Auszeichnungen nach sich zieht, ein lässlicher Trost: die Einsamkeit vor dem Papier, wie sie jeden Schreiber betrifft, und mehr noch die Einsamkeit vor dem Schicksal (oder, nach Kertész, der Abwesenheit von Schicksal) lindert sie nicht.

Dietmar Ebert hat in seiner fulminanten Monografie zu Imre Kertész („Das Glück des atonalen Erzählens“, Dresden 2010) auf die sprachlichen wie gestalterischen und ästhetisch-theoretisch erheblich über musikalische Neuerungen des zwanzigsten Jahrhunderts untersuchbaren Besonderheiten des Autors verwiesen. Die Arbeiten zu diesem Buch, das zugleich ein europäischer Stimmenkanon zum Werk Kertész’ ist, erfahren in den Aufzeichnungen der „Letzten Einkehr“ Notiz wie auch die vielen Treffen mit Zeitgenossen und die späte Rastlosigkeit des Autors, der so gesehen auf einer mindestens zwiefältigen Suche nach ‚Einkehr‘ ist. Kertész gibt damit dem Wunsch von Millionen durch den entfesselten Wahn des vergangenen Centenniums Gedemütigten, sich in ihrer nicht selbst verschuldeten Versehrung zu artikulieren, ein gleichsam individuelles wie streitbares Gesicht.

Aufwühlend ist es, dem Ringen K.s um die Sprache, seinem dabei immer wieder und in langen Satzketten wie knappsten Einträgen zunehmenden, bedrängend sichtbar werdenden Verstummen beizuwohnen. Sei es, dass es sich (wie es momentan jedoch alles andere als den Anschein hat) trotz der Visionen und Zumutungen des In-der-Ambivalenz-Seins dieses großen Autors doch zum Besseren findet – das Dossier der „Letzten Einkehr“ in seinem Miteinander von höchst Privatem und dem Versuch, die Erwartungen, die das hysterische Zeitalter an ihre öffentlichen Protagonisten richtet, zu bestehen, hinterlässt niemanden ungerührt.

 

Imre Kertész
Letzte Einkehr
Tagebücher 2001 - 2009
Rowohlt
2013 · 464 Seiten · 24,95 Euro
ISBN:
978-3-498-03562-4

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