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Kritik

Kleiner Mann dreht auf

Vorsicht, anschnallen: In seiner High-Speed-Provinzgroteske Kleine Kassa lässt Martin Lechner einen jungen Mann atemlos durch seine Heimatstadt hecheln – und zieht dabei alle Register für einen urkomischen, an Hollywood-Komödien erinnernden Debütroman.
Hamburg

Der Leser ist zunächst fast ebenso kopflos wie die Hauptfigur: Was ist hier nur los? Ein junger Mann kommt auf einer Landstraße zu sich. Requisit: Ein Koffer. In seinem Kopf, nahezu physisch präsent, eine tickende Uhr, die die Sekunden langsam rückwärts zählt. Was hat es mit dem Koffer auf sich? Wem gilt der Countdown? Und wo kommt die Leiche her, die plötzlich im Weg liegt?

Martin Lechner, 1974 geboren, Open-Mike-Teilnehmer und bislang nur in Literaturzeitschriften wie Edit und BELLA triste zu lesen, hat sich Zeit gelassen für seinen Debütroman – aber das hat sich gelohnt. Wie in einem guten Thriller schreibt er mit sicherer Hand atemberaubend schnelle Szenen und spielt mit den Mitteln der taktischen Verwirrung, indem er geschickt immer genau so viele Leerstellen offen lässt wie nötig, so dass man gar nicht anders kann, als rasch weiterzublättern.

Dabei ist die Ausgangslage in Kleine Kassa eine ganz unspektakuläre. Denn eigentlich könnte alles ganz harmlos seinen Gang gehen. Georg Röhrs ist Lehrling in der Eisenwarenhandlung einer verschlafenen Kleinstadt, die irgendwo in der Lüneburger Heide liegen könnte. Regelmäßig hat er einen Sonderauftrag: Er muss für seinen Meister, Herrn Spick, einen Koffer von einem Ort zum nächsten schaffen, in die sogenannte „Kleine Kassa“. Er denkt sich nicht viel dabei, überhaupt ist er eher jemand, der sich keine großen Gedanken macht, und so könnte er in seiner kleinen Welt zufrieden sein – aber Georg träumt von Größerem, er wäre gerne Hotelpage irgendwo in einem südlichen Land, um sich dann, irgendwann, den Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär zu schaffen.

Umso überraschender die Action, mit der der Roman einsetzt – und die auch so schnell nicht wieder aufhört: Die wirklich nicht zu beneidende Hauptfigur in Martin Lechners Roman ist ständig in Bewegung. Dieser Georg rast über Landstraßen, schlägt sich durch das Unterholz und kämpft sich durch Maisfelder. Selbst einen Unterschlupf, in dem er sich sicher glauben könnte, verlässt er nach wenigen Stunden schon wieder. Dann hält er offenbar grundlos inne, um die kuriosesten Vorhaben in die Tat umzusetzen: Dass er sich neue Schuhe kaufen müsse, vielleicht ein Bad nehmen oder erst einmal zum Frisör gehen sollte. Aus diesem Spannungsverhältnis zieht Martin Lechner eine außerordentliche Komik, die an den Slapstick-Humor klassischer Screwball-Komödien in der Tradition von What’s Up, Doc? – auch ein klassisches Verwirrstück in Sachen mysteriöse Koffer – erinnert.

Bis man aber als Leser endlich den Grund erfährt, warum Georg Röhrs nun in seine missliche Situation geraten ist, vergehen einige Episoden, in denen er unerkannt in Verkleidung durch seine Heimatstadt irrt, mit einer alten Dame im Supermarkt aneinandergerät, alte Bekannte aus dem Nichts auftauchen und die Vergangenheit kurz davor ist, ihn wieder einzuholen – bis er sich schließlich mit letzter Kraft in ein Hotelzimmer zurückzieht. Abgeschnitten von der Außenwelt, von seinem Meister, der so viel auf ihn gesetzt hat, und auch von seiner geliebten Mutter, die in Gedankenblitzen immer wieder durch  Georgs konfusen Kopf zuckt, schreibt er einen Brief an seine Eltern, der unversehens zur Lebensbeichte wird.

Es ist ein halsbrecherisches Unterfangen, das Martin Lechner hier wagt und eines, das die Lektüre von Kleine Kassa beinahe ebenfalls zu einer sportlichen Übung ausarten lässt: Wie lange kann man diese schier unerträgliche Spannung noch aushalten? Wie kann diese Geschichte überhaupt ein befriedigendes Ende finden, stolpert der vom Pech verfolgte Protagonist doch augenscheinlich von einer Katastrophe in die nächste?

Was man Martin Lechner bei aller Grausamkeit seiner Hauptfigur gegenüber zugutehalten muss: So halsbrecherisch die Handlung auch ist, irgendwie schafft es Georg doch immer wieder, im richtigen Moment den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Und so keimt auch am Ende noch eine kleine Hoffnung auf, dass das große Glück noch nicht verloren ist – und der Traum vom Hotel am Meer vielleicht doch wahr werden könnte. Der Countdown läuft.

Martin Lechner
Kleine Kassa
Residenz
2014 · 264 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
9783701716227

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