Kritik

Eine Studie in Recht

Ferdinand von Schirachs lakonische Schreibweise kommt auch in seinem neuesten Krimi bestens zur Geltung. „Tabu“ ist ein literarisches und intellektuelles Vergnügen
Hamburg

Echte Verbrechen zeichnen sich in der Regel durch ihre Banalität aus, ein Umstand, der zu ihrer Zeit auch Hannah Ahrendt aufgefallen ist. Und das an einem Gegenstand, der weitaus Größeres betrifft als der Fall, den sich Ferdinand von Schirach in seinem neuen, schmalen, dabei beeindruckenden, also sehr, sehr lesewerten Buch vorgenommen hat. Zumal „Tabu“ ja kein wirkliches Verbrechen schildert, sondern ein echtes fiktionales Buch ist. Ein Krimi? Achja, warum nicht.

„Tabu“ erzählt allerdings eigentlich von keinem Fall, sondern führt eine Herleitung und Simulation vor. Der Held der Geschichte, ein bildender Künstler namens Sebastian von Eschburg (alter Adel, abgesunken, wie es sich gehört) muss erleben, dass sich sein Vater, der ein veritables Doppelleben geführt hat, eines Tages nach der Jagd erschießt. Vulgo, Trauma.

Die Eltern sind einander entfremdet, der Vater lebt meist in seiner österreichischen Jagdhütte, die er anscheinend in mühseliger Kleinarbeit mit kleinen Tuschkreuzen versehen hat, der Junge ist eh im Internat, die Mutter hat sich den Pferden verschrieben, was sie schließlich auch an den Rollstuhl fesselt, ein Unfall. Die Familie ist herzlich herzlos zueinander, der später dazukommende neue Lebensgefährte der Mutter, ein dämlicher Macher, der zu wenig mehr taugt als zum Großmaul.

Kein Wunder also, wenn aus dem Jungen nichts wird, außer Künstler eben. Er lernt bei einem Fotografen, macht sich selbständig und entwickelt ein sehr eigensinniges, in die Abgründe der abendländischen Kultur abtauchendes Konzept. Die Schönheit der Frau etwa wird als Überblendung von schönen Frauen vorgeführt. Und auch sein Verbrechen, das ihn schließlich wenigstens ins Untersuchungsgefängnis bringt, hat viel mit einer solchen Überblendung zu tun.

Merkwürdig ist das freilich allemal: eine Tages geht ein Notruf bei der Polizei ein, in dem eine junge Frau bekennt, entführt worden zu sein. Die rasch aufgenommene Suche führt zu unserem Fotokünstler, in dessen Wohnung und Wagen Fesseln mit Hautabschürfungen, Blutspuren und dergleichen mehr gefunden werden.

Allerdings eskaliert die erste Vernehmung von Eschburgs, der ermittelnde Kripobeamte droht ihm mit Folter, um das Leben der Frau vielleicht noch retten zu können, die Staatsanwältin, die dem Verhör beiwohnt, unterbindet das nicht, sie schreibt jedoch eine Aktennotiz über den Vorfall. Von Eschburg jedenfalls gesteht unter dem Eindruck der Drohung, wie es scheint.

Aber es gibt auch jetzt immer noch keine Leiche oder auch nur einen Hinweis auf die Identität der jungen Frau. Allerdings finden sich Fotos, die anscheinend das Opfer darstellen. Nur leider weiß niemand, wer sie ist oder sein soll.

In diesem Moment kommt der Strafverteidiger Konrad Biegler ins Spiel. Griesgrämig, rational, selbstgewiss und arrogant, krank und müde, auf Urlaub, der der Erholung dienen soll, aber es hilft nichts, er hat keinen Spaß an den Leuten, am Spazierengehen und an den anderen Vergnügungen, die die Leute in die Alpen führen. Er ist ein überzeugter Strafanwalt, der eigentlich seine Pause braucht. Aber die Aktennotiz der Staatsanwältin bringt ihn dazu, sich dieses merkwürdigen Mandanten anzunehmen. Womit denn genug von der Handlung wiedergegeben ist.

Erzählt wird das Ganze in zwei großen Abschnitten. Im ersten begleiten wir von Eschburg durch seine Kindheit und Jugend bis zu dem Zeitpunkt, als eine geheimnisvolle junge Frau ihn auf einer Vernissage anspricht.  Der zweite Teil ist der Verteidigung von Eschburgs bis hin zur Aufklärung gewidmet, die statt des Verbrechens eine groß angelegte Performance vorführt. Das vermeintliche Opfer hat nie existiert, zumindest so nie existiert. Ein immerhin interessanter Ansatz, den nachzuvollziehen sich lohnt.

Dabei bleiben die Lehren dieses Stücks Konzeptkunst einigermaßen im Dunkeln: Das Rechtssystem wird zwar vorgeführt, aber warum das? Deine Anklage gegen von Eschburg auf Grund eines Notrufs und einer Reihe von Spuren und Indizien zu erheben, mag so fern nicht liegen. Es scheint zudem so, als ob von Eschburg im Verfahren selbst die Performance gesehen hat, denn er schaltet – hinreichend geplant – erst dann Biegler ein, als Indizien und Geständnis ihn mit hinreichender Sicherheit für längere Zeit ins Gefängnis bringen. Dass der wiederum so erfolgreich dabei ist herauszufinden, dass alles ganz anders, nämlich Kunst war, kann man provozieren, aber planen? Die Kontingenzbehaftung unserer Welt spricht eigentlich dagegen. Ein Anfall von Interesselosigkeit, die literarischen Figuren mit einer solchen Bedeutung aber eigentlich nie befällt, hätte von Eschburgs Kalkül auflaufen lassen.

Aber dem ist eben nicht so. Stattdessen schimpft und nörgelt sich Biegler durch den Fall und schließlich den Prozess, den er natürlich grandios abschließt. Dafür war er denn doch zu synthetisch und exemplarisch angelegt.

Denn zur großartigen Form läuft von Schirach in den Teilen des Textes auf, in denen es – schließlich vor Gericht – um die Legitimität der Folterandrohung durch den ermittelnden Beamten geht.

In diesen Passagen wird mit bewundernswerter Geduld herausgearbeitet, warum Folter nicht einmal in einer hypothetischen Form eine denkbare Handlung in einem funktionierenden Rechtssystem sein kann. Sie ist nicht nur amoralisch und funktions-, mithin erfolglos, sie ist zudem von ungemein großer destruktiver Gewalt. Sie zerstört den Zusammenhang einer Gesellschaft, weil sie – selbst wenn sie in Einzelfällen zur Rettung eines Opfer führen mag – im Gesamten die Wahrheitsfindung, wie sie rechtlich geboten ist, unterbindet und durch das Gewaltprinzip ersetzt. Sie lässt eine Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Nicht-Erlaubtem nicht zu und setzt jeden, der einmal in die Fänge der Ermittlungsbehörden geraten ist (zurecht, durch Missverständnis oder gar durch Missbrauch), einem unüberprüfbaren Urteil aus. Die Folter wäre das Ende der zivilen Gesellschaft und der Beginn eines Unrechtssystems – und das stellt von Schirach über seinen Protagonisten Biegler klar. Dafür ist ihm zu danken.

Ferdinand von Schirach
Tabu
Piper
2013 · 256 Seiten · 13,99 Euro
ISBN:
978-3-492-96403-6

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge