»Eigentlich bin ich woanders.«
»Wer will schon nach Ochotsk«, ein Ort in Sibirien, »in the middle of nowhere«, der im 17. Jahrhundert von den Kosaken als Winterlager gegründet wurde, der auf dem Landweg kaum zu erreichen ist und heute »nur sehenswert ist als eine Stätte des Zerfalls«? Wo seit dem Ende der Sowjetunion und der darauf folgenden Wirtschaftskrise in den 1990er Jahren über die Hälfte der Bewohner ihre Häuser verließen, um anderswo Arbeit und Glück zu finden? Was bewegt Menschen dazu, sich dorthin, ins Nirgendwo aufzumachen, wo nichts ist, einem Ort, der »leer gefegt ist von allem, was sonst ein Leben möbliert und ausmacht«? Ist es eigentlich nur »der leere Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können«, wie es bei Kant heißt, das, was man gemeinhin Sehnsucht zu nennen pflegt? Sehnsucht nach dem, was nicht ist, also gewissermaßen der Wunsch einer erträumten Flucht aus dem Alltag. Verlangen nach etwas, das höchstwahrscheinlich nicht erlangt werden wird, und wenn doch, meist nicht dem Bild entspricht, das man sich zuvor noch davon machte.
In Eleonore Freys neuem, streng komponierten Buch Unterwegs nach Ochotsk (erschienen im glücklicherweise wieder erstarkenden Urs Engeler Verlag) treffen gleich mehrere Figuren auf- und zueinander, die den am ochotskischen Meer gelegenen Ort zum Sehnsuchtsort erklären. Den Ausschlag dazu gibt ihnen wiederum ein Buch, genauer gesagt ein Reisebericht mit dem Titel »Unterwegs nach Ochotsk«, das der Schriftsteller Robert unter dem Pseudonym Mischa Perm geschrieben hat. Dass er es geschrieben hat, fällt ihm jedoch nur ein, wenn die Tantiemen kommen, denn ansonsten lässt er sich ruhelos umhertreiben, immer auf der verzweifelten Suche nach seiner toten Schwester, die er in fast allen Frauen zu erkennen glaubt. Dabei begegnet er der alleinerziehenden, zweifachen Mutter Sophie, die in der Buchhandlung ihres Onkels aushilft. Immer wieder zieht es Sophie in Gedanken hinaus in die Welt, an den Ort im Nirgendwo, den sie in Mischa Perms Buch gefunden hat. Überhaupt ist es das Nirgendwo, das Sophie stets zu finden hofft und vor allem da zu finden scheint, wo »sie ist, wenn sie liest. Wo sich dort, wo eben noch ein Zimmer war, ein Raum auftut für alles, was sich mit Buchstaben nennen, verfluchen oder verneinen lässt«. Von diesem Nirgendwo des Buches, dessen Zentrum in gewissem Maße Ochotsk bildet, lässt sich auch der Hausarzt Otto zunehmend einnehmen. Nach der Lektüre beschließt er, sich als Arzt auf einem Expeditionsschiff zu bewerben. Und auch Roberts ältere, etwas verwirrte Nachbarin Theres verfällt – wenn auch nicht dem Wunsch, an den von Robert beschriebenen Ort Ochotsk zu gelangen, sondern Robert selbst. Nachdem sie ihre Schlüssel verliert, und Robert ihr daraufhin seine Wohnung überlässt – in welcher es nichts gibt, das Theres irgendeinen Halt geben oder eine sie dort befallende Leere zumindest in die Schranken weisen könnte –, verfällt sie auch körperlich und weiß nicht mehr recht, wohin mit sich. Neben dem Gefühl der Sehnsucht ist es gerade auch das Gefühl der Verlorenheit, das die Figuren in Freys Erzählung miteinander verbindet. Kaum eine von ihnen weiß, welchen Platz sie einnehmen, sich zugestehen kann, und so kreisen sie alle umeinander, geben sich Impulse, ziehen sich an und stoßen einander wieder ab. Eleonore Frey vermischt dabei die Erzählebenen, verwebt Motive, fügt Zitate aus Mischa Perms Buch ein und wechselt Fokalisationszentren und Perspektiven an manchen Stellen in nur einem Satz. Doch während sich die Figuren, allen voran Robert, nach und nach selbst immer mehr verlieren, bleibt man während des Lesens der meist parataktischen, immer aber höchst poetischen, ja rhythmischen Sätze ganz bei ihnen. Und gerade durch diese präzise, ruhige Sprache schafft es Frey, Spannung zu erzeugen zwischen dem, was mitteilbar, was an den Oberflächen sichtbar ist, und dem, was unscheinbar darunter liegt, was »von Unheimlichkeiten unterspült zu sein schein[t] wie, und das wird einmal eingehend beschrieben, im Hinterland des ochotskischen Meers eine vulkanische Landschaft von einem brodelnden unterirdischen Gewässer.«
Unterwegs nach Ochotsk ist insofern ein Buch über das Verlorensein, über Menschen, die sich nicht mit der Realität zufrieden geben, die der Banalität des Alltags entfliehen möchten. Gleichzeitig ist es ein Buch über die Kraft der Fiktion, der Imagination, mithilfe derer »man Ochotsk finden kann, wo man will«, ohne den tatsächlichen Ort aufsuchen zu müssen. und mittels derer man nicht bei realen Tatsachen stehen bleiben muss, sondern sie für sich auch ändern kann. So antwortet etwa Theres auf Sophies Frage, ob ihr Mischa Perms Buch denn nicht gefallen habe: »Doch. Sogar sehr. Aber es hat einen Fehler. Dort, wo vom Hund die Rede ist, der auf der Kreuzung der beiden Hauptstrassen schläft. Das stimmt nicht. In Ochotsk gibt es keine Hunde! « Auf die Frage, woher sie das wisse, erklärt Theres: »Da gibt es nichts zu wissen. Das ist so. Und gab dann noch die Erklärung: Das ist so, weil ich Hunde nicht mag. «
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