Angesichts des Gesichtslosen
Der Kapitalismus hat kein Gesicht. Sonst wäre er nicht so, wie er ist, sondern identifizierbar, angreifbar. Er hat nicht mal Augen, deren Blick sich mit unserem kreuzen könnte. Das würde uns Macht geben. Er hat aber einen Kopf aus Schlangen, die uns umgarnen, um uns zu lähmen. Als wäre das überhaupt notwendig. Es reicht doch schon ein smarter, passperfekter Anzug, um uns vor ihm versteinern zu lassen. Die Insignien (das heißt: Signifikanten) der Macht sind meist wirksamer als sie selbst. Kapitalismus hat das – an seinem Alter gemessen – blutjunge Diktum »show, don’t tell« schon längst verinnerlicht.
So wie auch die Gestaltung dieses Buchs. Andreas Töpfers Illustrationen für die Bände des kookbooks-Verlags sind schon immer mehr als schickes Beiwerk gewesen, vielmehr handelt es sich um visuelle Interpretationen, Kommentare, Extrapolationen von dem, was es zwischen den Buchdeckeln zu lesen gibt. Selten aber hat Töpfer der Quintessenz eines Lyrikbands dermaßen pointiert eine Form verliehen wie auf dem Umschlag von Katharina Schultens‘ gorgos portfolio. Eine gesichtslose Medusa, schlangenumrankt, modisch und mondän gekleidet. Großartig. Aber (weil?) niederschmetternd.
Auf dem großformatigen Poster prangt in sattestem Blau das Grauen. Blau, eine der Farben des Geldes. Blau, die Farbe der Jeans, an deren semiotischer Geschichte Mercedes Bunz in der letzten (leider: allerletzten) Ausgabe der de:bug jüngst nachvollzog, wie uns der Kapitalismus vereinnahmt hat. Aus dem funktionalen Kleidungsstück wurde ein repräsentatives Designobjekt während parallel die entfremdende Arbeit das Zentrum unseres Seins besetzte. Die Jeans begleitet uns vom Büro in den Club, sie ist überall – zu jeder Zeit. Und damit auch die Arbeit.
Auf gorgos portfolio prangt also im Überlebensgroßformat das Antlitz des Kapitalismus. Moment – der Kapitalismus? Nein. Die Kapitalismus. Medusa. Die einzige sterbliche der drei Gorgonen aus der griechischen Mythologie. Die noch alle bis auf Perseus versteinert hatte. Der aber schlug ihr den Kopf ab und wurde dafür – natürlich – reich belohnt. Das Haupt der Gorgo wurde seine Waffe, ein performatives, tödliches Statussymbol, das seine Macht manifestierte.
Es ist vor dem mythologischen Hintergrund der Medusa betrachtet bemerkenswert, sie als Allegorie für den Kapitalismus heranzuziehen. Der nämlich baut auf Ungleichheiten nicht nur zwischen erster, zweiter und dritter Welt auf, er konstituiert auch qua pay gap das Patriarchat, dem er entsprungen ist. Auch das Modelabel Versace – ja, auch von denen gibt es Jeans zu kaufen – trägt, ganz wie Perseus, den Medusenkopf stolz im Wappen und kleidet die Gattinnen reicher Männer ebenso ein wie diejenigen Frauen, die sich bis in die Chefetagen hochschlagen konnten. Es wirkt beinahe defätistisch, vor allem aber zynisch, dass Töpfer dem System den Umriss der von ihm strukturell Marginalisierten beigibt. Das jedoch deckt sich (leider?) nur allzu gut mit den Gedichten Schultens‘.
In gorgos portfolio hat die Arbeit das Zentrum des Seins besetzt, ist der Kapitalismus überall – zu jeder Zeit.
morgens wenn es dämmerte ging ich gewöhnlich tanzen
es gab einen club der wechselte die treppenhäuser
ich tanzte mit einem kollegen in bärenkostüm
ich trug die stiefel aus meinem büro
Auch in der Sprache. Seine Begriffe haben sich tief ins das Selbst eingeschrieben.
wann genau wird handeln liquide. muss ich handeln
um liquide zu sein. sind liquide sein und der handel denn
was mich eigentlich hält: ein detail. es ist – regel – stets nur
ein detail das uns trennt. unausweichliche schwebe:zu sagen ich brauche etwas. ich muss haben: diesen einen blick
auf meine stiefel.
Das spitzt sich in der Kommunikation und also im Zwischenmenschlichen zu:
Ich habe lang bevor wir heute an-
einander rieten schon berechnet
exakt wann du illiquide sein wirst
nein du hast mich nicht enttäuscht
Die Begriffe des Kapitalismus entwickeln ein Eigenleben, die Marktlogik bestimmt das Handeln. insider trading heißt das dritte der insgesamt sechs Kapitel (wie schnell bei diesem Wort aus einem e ein a werden könnte), aus denen sich gorgos portfolio zusammensetzt. Darin geht es um ein wir, das heißt einerseits: Ein ich und ein du. Das heißt andererseits aber auch: Uns alle. Es geht auch um Kommunikation, die »über entwürfe«, online und privat abläuft. Und doch von Konsequenzen gefolgt, real und politisch. Privat und politisch, weil womöglich überwacht, von Instanzen, die uns bekannt sind und doch verborgen. »ich kann sehen wann du mich liest«, aber ins Antlitz des Apparats – ob nun dem Facebook-Chat mit seiner »Gelesen«-Anzeige inklusive genauer Zeitangabe oder dem für das Gedicht titelgebende Überwachungsprogramm prism – können wir damit noch lange nicht gucken. Wir starren stattdessen weiter aufs Display und tippen verschämt: »so lass mich dennoch nicht allein«. Die Entfremdung bindet uns nur enger an das Entfremdende. Beinahe defätistisch, vor allem aber zynisch, wie Schultens das ausbreitet.
Die Kippspiele von Privatissime und Politika, die Schultens mit wenigen Zeilen konstruiert, verleihen den Gedichten von gorgos portfolio ungemeine Brutalität. Weil sie mit bedenklicher Leichtigkeit aufzeigen, wie weit die Verquickung von Leben und Kapitalismus fortgeschritten ist. Dass Schultens stellenweise einerseits plakativ wird und andererseits sehr intime Themen aufgreift, verstärkt das noch: Unkommentiert steht die lautstarke Wut auf das System neben der Hilflosigkeit und Verlorenheit der zum Normalzustand geronnenen Entfremdung. Das reibt sich zwar aneinander, schlägt aber deswegen umso mehr Funken. gorgos portfolio ist, wie eben ein gutes Portfolio zu sein hat, mehr als die Summe seiner Teile. Und damit selbst Symptom des Kapitalismus, Opfer der Marktlogik.
Die Frage, die sich unweigerlich stellt: Wird der Medusa, deren Antlitz sich in diesen zynischen Ambivalenzen figuriert, ein Perseus entgegentreten? Nein. Aber da sind diese kongenialen Twists. Wie etwa »hypo- // crisis« im Gedicht index. Hypo, unter. Crisis, Krise. Hypocrisis, Verstellung. Oder auch Scheinheiligkeit, Heuchelei. Der Kapitalismus hat kein Gesicht, dafür aber viele Masken, unter denen die Krisen schwelen. Schnell können sie heruntergerissen werden, schnell schlägt sich die Sprache wie eine Schlange vom Haupt der Medusa frei und beißt ihr ins gesichtslose Angesicht, ihre Scheinheiligkeit enttarnend. Das ist tröstlich.
Es ändert jedoch zuerst nichts, noch nicht. Denn der Kapitalismus steckt in uns, so wir auch in ihm stecken. Wir kalkulieren die Menschen um uns, ganz so wie und eben weil sie uns taxieren. Das wirklich Schlimme, das Grauen erregende ist daran, dass wir das nicht mehr realisieren, geschweige denn reflektieren. Es hilft ein Blick in gorgos portfolio, um uns unserer Lähmung angesichts des Gesichtslosen wieder gewahr zu werden. Das tut weh, sicherlich. Aber damit auch: Sehr, sehr gut.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben