Die Lust des Lesens
Ich gestehe, ich kannte ihn noch nicht. Nicht als Autor. Nicht als einen solchen Autor.
Ich zögere nur selten, Bücher aus dem Berliner Berenberg-Verlag zu bestellen. Die sehen nicht nur sehr schön aus, Halbleinenband, farbiges Vorsatzpapier, großzügiger Satz, zartgelbes Papier, sie sind auch meist eine Verführung hin zu einem Autor, einer Autorin, deren Texte sich fast immer als lohnende Entdeckungen herausstellen, seien es nun Nebenwerke längst kanonisierter Schriftsteller und Schriftstellerinnen, wie Chesterton, Keynes, Blum, Beckett, Strachey, Giraudoux, Isherwood, Bolañes, Strindberg, oder Essays und Gedanken über sie. Als von mir ganz besonders zu rühmende Herausgebertat sei da der Band mit den Erinnerungen von Franz Overbeck an Friedrich Nietzsche genannt, jahrelang in Antiquariaten gesucht, nie bekommen. Aber da sind sie, frisch, neu ediert, ein Wunder!
Ja, ein Wunder ist dieser Verlag, ein schönes, staunenmachendes, beglückendes, erfrischendes, anregendes, lustvolles. Selten lässt sich ja über ein Verlagsprogramm sagen, es gäbe da keinen Titel, der einen nicht interessiere. Bei Berenberg aber – ja! Und so kam also auch dieser Band von Joachim Kalka ins Haus, Ehrfurchtsnotizen zu Katze, Regen, Totenreich, ich gebe zu, das hatte etwas Einschüchterndes, aber das Einbandfoto war reine Poesie, zwei Männer im Schnee, der eine mit Schirm, Spuren von Gehenden, von oben aufgenommen, dazu ein paar hereinragende Nadelbaumzweige, in der Mitte aber nur nuancenreiches Schwarzweiß – und doch eine ganze Landschaft für den, der zu sehen vermag, den Blick hypnagogisch verschwimmen lässt, beste Ein- und Hinüberführung zu dem, was ihn innen erwartet.
Joachim Kalka. Hej, warum hat mir niemand gesagt, wie gut der schreibt?! Warum hat mir keiner je ein Buch hingelegt und gesagt, lies das?! Ich bin ja eine große Verfechterin der Theorie, dass die Bücher von selbst zu einem finden, zur rechten Zeit, das heißt dann, wenn man aufnahmebereit ist für sie. Aber hier? Hätte es nicht ein wenig früher sein können?
Ich hatte an einem Regenabend mit dem Kapitel über den Regen begonnen (natürlich muss man die Essays nicht in der vorgegebenen Reihenfolge lesen, sondern kann sich führen lassen von eigenen Empfindungen, Vorlieben, der momentanen Stimmung oder Witterung), die ersten Seiten nahmen mich sofort ein, es wurde besser und besser (was für eine beglückende Erfahrung, dass das Vergnügen zu-, nicht abnimmt!), und als ich eine kleine Zugfahrt vor mir hatte, zwei Tage durch Branden- und Mecklenburg bei seinem Namen überaus gerecht werdenden Aprilwetter, Wechsel von Regen und Sonne und Schnee und Hagel, dunklen, tief hängenden Wolken und blitzblauem Himmel, ein Wetter, das immer wieder zum Aufblicken zwingt, so lebendig wie ein alle Register ziehendes Theaterstück, aber ernster, erhabener, da packte ich den Band in meinen Büchersack und freute mich auf die ruhigen, ruhig dahingleitenden Stunden im Zug, allein, auf einem Fensterplatz, von dem aus ich also jederzeit von den Buchseiten auf in das frühjahrsgrüne, regenglänzende Flach- und Hügelland hinausschauen konnte.
Und da entdeckte ich Joachim Kalka. Ich kannte ihn schon, sah ich, als ich die kurze biographische Mitteilung am Ende las – wie schön, diese Neugier, die sich über der Lektüre entwickelt, man will dann auf einmal wissen, wer einem dieses Vergnügen zu verschaffen vermag, wer das ist, der so schreibt –, als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Aber eigene Texte hatte ich noch nicht gelesen. Und jetzt las ich also über die Katze, ihre uns beeindruckende und zugleich ängstigende, verletzende Unabhängigkeit, über die Wege, die sie in der Literatur, der englischen zumal (Carroll, Smart), gegangen ist; über das Tabakrauchen und sein Gestenrepertoire („Das Rauchen ist weniger ein Genuß oder ein Laster als eine Gebärde“ – so hebt das Kapitel an), vom Film über die Literatur zu unser aller Alltag, in dem die Hände oft nicht wissen, was tun, wenn wir warten, ein Schweigen überstehen, einen Auftritt, einen Abgang bewältigen müssen, der Rauch stellt da eine Gemeinschaft zum anderen, zur Umwelt her wie nichts sonst, eine schöne dialektische Übung, denn in der Abhängigkeit erleben wir eine Befreiung, die ein Umherschweifen der Gedanken, des Blicks erlaubt; über den Halbschlaf, diese für alle Kunst so fruchtbare Schwelle, von der so selten die Rede ist; über das „Kismet“, die orientalische Ergebenheit ins Fatum, eine vom Westen erfundene und den Muslimen angedichtete Resignation, in dem sich, so Kalka, eine unbewusste Sehnsucht spiegele, dem ewigen Vorwärts, Vorwärts, Veränderungs- und Verbesserungswillen wenigstens phantasmatisch zu entkommen.
Kalkas Erzählmethode ist für jeden, der Abschweifungen liebt, sofort einleuchtend und überzeugend. Sein roter Faden speist sich nämlich aus einer Folge von Zitaten, der Literatur und dem Film entnommen, und wie er von einem Text zu einem anderen, von einem Autor zum nächsten gleitet, ähnelt einer solchen Zugfahrt, wie ich sie gerade bei der Lektüre unternahm, es gibt eine feste Strecke, es gibt Bahnhöfe, an denen der Zug hält, Ankunfts- und Abfahrtzeiten, Weichen, Signale, aber die Fahrt wirkt schwebend, anstrengungslos, frei, Blick und Körper bewegen sich in einem Zwischen, einem Innen- und einem Außenraum, die Landschaft berührt die großen Scheiben, durch die man hinausschaut, der Regen schlägt sich daran nieder, die Sonne trocknet die Tropfen, blendet herein, und eben so sind Kalkas Essays: So genau und elegant gebaut, dass man beim Lesen geführt wird, ohne es zu spüren, mit Stationen, die einen aufblicken lassen („aufblickende Lektüre“, schreibt Roland Barthes, ich weiß nicht mehr, wo, aber dass ich daran denke, macht mir sofort Vergnügen, macht mir Lust, wieder Barthes zu lesen, wie Kalkas Texte überhaupt Lust machen, und zu Hause lese ich dann in „Das Rauschen der Sprache: „Wieviel ‚Begehren‘ steckt in der Lektüre? Das ‚Begehren‘ lässt sich nicht benennen, ja (im Gegensatz zum ‚Anspruch‘) nicht einmal aussagen. Dennoch steht fest, daß es eine Erotik des Lesens gibt (beim Lesen ist das Begehren mitsamt seinem Objekt da, und so lautet die Definition der Erotik).“ – und dann kommt Barthes natürlich auf Proust); und ja, diese ansteckende, fort und fort führende Lektüre, die wie eine Reise von Ort zu Ort, Stadt zu Stadt, durch weite, ihr Aussehen immerfort wechselnde Landschaften ist, mit Mitfahrenden, die ebenso wechseln, Gesichter, Kleidung, Alter, Sprachen, deshalb reist man doch, deshalb liest man doch, ein unendlich sich fortsetzendes Begehren genießend, das das gemeinsame große Geheimnis der Literatur wie des Reisens ist, und Kalka verführt einen mit den Zitaten und seinen die Zitate verbindenden Pfaden zu neuen Lektüren, denn man will sie alle sofort lesen, Maeterlinck, Kraus, Huysman und vor allem Chesterton – und die Filme wiedersehen, „Der dritte Mann“ und „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ und die von Chaplin und von Buster Keaton, denn was Kalka da im vorletzten Essay über Slapstick und die „Zauberei der Improvisation“ schreibt, das muss man jetzt doch gleich noch mal mit eigenen Augen erleben.
Was ein Buch ist, wie es ist, wie gut, wohin es einen führt, wissen wir erst, wenn wir beginnen es zu lesen. Das ist das große Geheimnis der Literatur, dieses Mysterium der Verwandlung, die beginnt, sobald wir aus schwarzen Zeichen Figuren, Orte, Landschaften erschaffen, Handlungen, Gefühle, Gedanken, die unsere Seele und unseren Geist ergreifen. Reine Magie. Es gibt Bücher, viele Bücher, denen die Beschwörung misslingt. Aber hier ist eins, dessen Zauber mit jedem Satz stärker wird. Alle Zutaten sind da, die es braucht: Ernst, Humor, Vergnügen, Schrecken, Spannung, Angst, Verführung, Erkenntnis, Formwille, Freiheit. Und vor allem: Liebe und Lust. Am Wort, an der Literatur, ihrem Lebendigsein und ihrer Schönheit, die in uns, den Lesenden, aufsprießt, sich entfaltet, zu Räumen, von denen wir, vielleicht, schon träumten.
Fixpoetry 2014
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