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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Nicht-Welt-Doch-Welt

Hamburg

Igor? Wer ist Igor? Die einfache Antwort: Es gibt keine Antwort auf die Frage, wer denn nun Igor sei. Igor heißt nicht einmal Igor, er nennt sich nur irgendwann so, weil Igor, der manchmal das Mögen nicht mag, den Namen mag. Das I und das O darin erinnern Igor an die Zahlen 1 und 0 und Zahlen, ja, mit denen kann er etwas anfangen. Oder aber mit Kreisen.

Schon früh stellt Igor fest, dass er stattfindet, hält die Existenz der Welt aber für unlogisch – und das, obwohl er eine große Zärtlichkeit gegenüber den Erscheinungsformen empfindet. Dann, als Igor bereits viel älter und nachdem die erste Liebe zu Alma abrupt geendet ist, schließt er sich in einen Raum ein. Hundert Tage soll die selbstauferlegte Einzelhaft dauern, es wird jedoch länger. Immerhin findet er zwischendurch einen treuen Begleiter: ein leise sirrender Kreis begleitet ihn auf seiner Reise ins Innere, die eventuell doch eine durch die äußere Welt ist.

Mit Der unsichtbare Apfel legt der Musiker, Schauspieler und selbsterlernte Tischler Robert Gwisdek sein literarisches Debüt vor. Es ist eine Art Bildungsroman über einen, der die Schule – wie eigentlich alle geregelten Institutionen – nicht leiden kann, weil er sich dort nicht aufgehoben fühlt und die vermeintliche Sicherheit des Rationalismus ihn skeptisch stimmt.

Mit Igor hat Gwisdek eine Figur geschaffen, die sich über Widersprüchlichkeiten definiert, sowohl den eigenen inneren wie auch denen zur äußeren Welt. Kindlich sind seine Gedanken und Taten, kindisch seine Beharrlichkeit. Aller Furcht gegenüber dem Erlebten zum Trotz verlässt Igor sein Optimismus. Moment, dem Erlebten? Was kann denn schon in einem stockdunklen Zimmer passieren?

Die einfache Antwort: Einiges. Oder aber: Nichts. Denn ob die Aneinanderreihung von kafkaesken Episoden, die sich nach und nach entspinnt, dem bloßen Wahnsinn geschuldet sind oder ob Igor aber wirklich jede der skurrilen Situationen inmitten des Volks von K, Kindern und geometrischen Formen durchlebt, ist die Kernfrage, die der bizarren Welt, die sich in Der unsichtbare Apfel auftut, zugrundeliegt. Die einfache Antwort auf diese sich aufdrängende Frage: Es gibt keine Antwort auf diese Frage. Sondern viele, und sie ergeben nicht wirklich viel Sinn. Weil sie sich zumeist widersprechen und das vielleicht auch sollen.

»Die Welt ist kein Ort«, heißt es mal, dann aber fleht Igor eben diese Welt um Aufnahme an, obwohl er sie doch vielleicht, wie an anderer Stelle angedeutet wird, in sich trägt. Doch nicht allein in Igors Kopf herrscht – zumindest an den Maßstäben unserer rationalisierten Welt gemessen – Chaos, auch außerhalb dessen: Die den Roman durchziehende Symbolik will sich nicht so recht zu einem sinnigen Ganzen zusammensetzen. Und das, obwohl der Kreis doch anscheinend das schönste in Igors Nicht-Welt-Doch-Welt ist. Und das, weil Igor es mit dem Sinn eh nicht so hat. Alles klar? Nein? Natürlich nicht.

Die fantastischen Parabeln, die Igor – ob nun tatsächlich oder nur in seinem Hirn – durchlaufen muss, sind überladen. Einerseits mit zu viel Bedeutung, andererseits mit einem kauzigen Personal, das sich wie ein müder Abklatsch des kafkaschen Bestiariums gibt. Gwisdek scheint auf Igors Reise nicht nur die Kohärenz seiner Erzählung, sondern auch die Idee dahinter abhanden zu kommen. Sein verstockt-altbackener Stil, der hier und dort durch zaghafte formale Experimente aufgebrochen wird, ändert nichts daran, dass Der unsichtbare Apfel ein zäh zu kauender ist. Am Ende kehrt Igor zwar zurück, im Reinen ist deswegen trotzdem nichts. In der Nicht-Welt-Doch-Welt gibt es noch viel glätten, im Roman erst recht.

Angeblich fand Der unsichtbare Apfel vor acht Jahren seinen Anfang, als Gwisdek alles, was ihm in den Sinn kam, niederschrieb. So liest sich auch der fertige Roman: Wie eine ungeordnete, mehr oder weniger zusammenhängende Aneinanderreihung von wenig durchdachten Ideen. Eine viel zu breit angelegte Vorskizze für etwas, das mit viel Arbeit und noch mehr Kürzungen vielleicht als passabler Roman durchginge.

Schlussendlich ist Igor, und das käme vielleicht einer einfachen Antwort auf die komplizierte Frage, wer denn nun Igor sei, gleich, eine Art kleiner Prinz, der sich ins Spiegelkabinett von Hermann Hesses Der Steppenwolf ver(w)irrt hat: eine aufgeblähte literarische Trope, die vor existenzialistischer Esoterik trieft und über viel zu viele Seiten bis zur absoluten Ermüdung breitgetreten wird.

Robert Gwisdek
Der unsichtbare Apfel
Kiepenheuer & Witsch
2014 · 368 Seiten · 12,99 Euro
ISBN:
978-3-462-04641-0

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