Dichtertotenbriefe

Briefe an B wie Benn

Francisca Ricinski schreibt an Gottfried Benn

Lieber Gottfried Benn,

„Schön wie ein junger Gott“ sahst du in den verliebten Augen der siebzehn Jahre älteren Else aus. Im lyrischen Ton des „gestreiften Tigers“, wie Else dich zärtlich nannte, ließ sich eine abstoßende Auffassung des Menschseins noch nicht erkennen. Das Leben schien noch Sinn und Schönheit für dich zu besitzen.

Erst durch deine Erlebnisse als Arzt während des Weltkriegs und auf den Hinterhöfen des Elends kippte dein Weltspiegel um. Ohne in deinen Poemen ausdrücklich zu mahnen, dass die Hölle kein Raum ist, sondern Leere, Zustand der totalen Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit, führtest du Todesqual und Verderben, das Gleiten ins Nichts, schonungslos vor. Mit einem der schärfsten Wortmesser, das die Poesie kennt, hast du die Mythen Mensch und Jugend wie eine deiner alltäglichen Leichen seziert und den Zersetzungsvorgang dieser fragilen Materie bis zu den letzten Zuckungen eines irreversibel verlorenen Seins dokumentiert. Bei jedem Blick in den Spiegel, jedem Liebesakt ermahnen mich deine Verse „Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte, /das war einst irgendeinem Mann groß/und hieß auch Rausch und Heimat“.

Seitdem hab ich mich nie mehr schön empfunden …

Damals ahntest du nicht, dass auch du von Leid und Schmerz bis ins Mark heimgesucht wirst. Wenn ich unter freiem Himmel an dich denke, denke ich meist an deine knappe und doch so zutreffende Zeremonievision des Sterbens, als würde sie von den Stufen meines eigenen Todes erzählen.

Als du, lieber Benn, starbst, war ich fast dreizehn und schrieb mein erstes Gedicht an die Sonne. Wenige Jahre später hättest du vielleicht deinen letzten Liebesbrief nicht mehr Ursula Ziebarth, sondern mir, deiner 26. Geliebten, gesandt. Du wärest in der Frühe gekommen. Allein der Anblick meiner Beine aus Meerschaum hätte dich gefesselt. Und fünfzig Jahre danach hättest du unter demselben Seidentuch meine hässlichen Kugeln und Krümmungen gesehen. Aber nichts hättest du dazu gesagt, auch dich nicht umgedreht, sondern auf die Dunkelheit mit mir gewartet. Nur das aufgeklappte Buch wäre dir aus der Hand gefallen.

Ich weiß noch nicht, ob du Gefallen an meinen Liebes- und Wortfantastereien gefunden hättest, und so schreibe ich dir in diesen Tagen und Monaten an deine vom Regen verwischte Adresse.

Deine Francisca Ricinski

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