Mehr als nur ein Reporter
Die Geschichte der Reportage, wie wir sie heute kennen, beginnt für uns in den 1920er Jahren. Und mit Autoren wie Egon Erwin Kisch, der energisch für die sachliche und realistische Schreibweise der Reportage gesprochen hat. Zwar sind gerade Kischs Reportagen präzise kalkulierte Texte, in denen nichts dem Zufall überlassen wird. Dennoch steht die neusachliche Reportage bis heute für den Vorrang der Anschauung vor der Imagination, kurz geschlossen, der Realität vor der Kreativität, und für einen trockenen, sachlichen Stil, in dem nicht die Ausschmückung des Gesehenen, sondern seine präzise Beschreibung im Vordergrund steht.
Dass die Reportagen der 1920er Jahre allerdings viele Schreibweisen auch in der deutschen Literatur kennen, ist dabei unbenommen. Der Blick über die Grenze zum damaligen Erzfeind (der mittlerweile zum Erzfreund mutiert ist) bestätigt dies sowieso, und Albert Londres ist das Exempel auf die Probe, dass eine gute Schreibe auch in der Reportage nicht das Immergleiche sein muss, so sehr man es auch schätzen mag.
Ganz im Gegenteil: Die drei Reportagen, die der derzeitige Herausgeber der „Anderen Bibliothek“, Christian Döring, aus dem Werk Londres zusammengestellt hat, demonstrieren auf eindrucksvolle Weise, dass Reportagen auch stilistisch eine ungemein große Spannbreite aufweisen können. Mehr noch, mit Londres öffnen sich für Reportagen Möglichkeiten, ihr ureigenes Feld neu zu durchmessen. Und diese drei Reportagen zeigen eben nicht nur, dass dem immer noch ein bisschen nachgeordneten Sachtext neben seiner politischen Schwere auch stilistische Behändigkeit zu eigen sein kann. Ein Vergnügen mit Wissenszuwachs, wenn man so will.
Vermessen? Nein, nicht einmal ansatzweise stark genug. Ohne den zahlreichen großen Reportern des frühen 20. Jahrhunderts zu nahe zu treten: Londres bildet eine eigene Klasse, und die Lektüre seiner Texte bietet nicht nur völlig ungewohnte Einblicke in die jeweiligen Themen. Er bedient sich dabei einer Sprache und einer Schreibweise, mit der die Grenze zum Fiktionalen schlichtweg niedergerissen wird, ohne dass je Zweifel an der Authentizität dieser Texte aufkommen würden.
Mit anderen Worten, die hier versammelten Reportagen sind große Literatur, ungemein gewinnbringend und vergnüglich zu lesen, ohne das hier je auch nur im Traum daran zu zweifeln wäre, dass man sich anderswo als auf höchstem Niveau bewegen würde.
Londres ist in Deutschland kein Unbekannter, aber nachdem er Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre mit eine Reihe von Publikationen auch in Deutschland bekannt wurde, geriet er durch seinen frühen Tod und die NS-Zeit in Vergessenheit. Auch in den Nachkriegsjahrzehnten scheint er in Deutschland keine größere Aufmerksamkeit gefunden zu haben. Bei dtv erschien 1998 ein Band mit Texten über die Juden in Europa und Palästina (der anscheinend im nun vorliegenden Band aufgenommen wurde). Erst in den letzten Jahren wird das Interesse wieder größer, wie nicht nur an der Publikation in „Die andere Bibliothek“ zu sehen ist. Seine Reportagen aus dem Ersten Weltkrieg sind jüngst erst neu erschienen, seine berühmte Reportage zur Tour de France ist gleichfalls neu gedruckt worden. Seine Reportage in die noch junge Sowjetunion ist anscheinend aber nie ins Deutsche übersetzt und publiziert worden, was bedauerlich ist.
Die werkbiografischen Daten, die allgemein zugänglich sind, zeigen einen Autor, der sich früh für sein Thema und sein Genre entschieden hat und nichts daneben zu gelten lassen scheint: 1884 in Vichy geboren, warf sich Londres bereits als Zwanzigjähriger auf die Reportage als seinem eigensten Feld. Er schrieb für „Le Matin“, „Le Petit Journal“, „Le Quotidien“ und andere renommierte Blätter Frankreichs – ein französischer Starreporter, wie Marko Martin in seinem Nachwort zur Ausgabe betont. Innerhalb von nicht einmal 20 Jahren bereiste Londres China, Arabien, Russland, Osteuropa, den Balkan, Palästina, jagte mithin jedem Thema nach, das für seine Zeit und für einen unruhigen Geist wie ihn von Bedeutung war. Unter anderem war er an der Aufklärung eines Dopingskandals der Tour de France beteiligt – auch damals schon. Bereits 1932 starb Londres, nicht einmal 50 Jahre alt, bei einem Schiffsbrand, auf der Rückreise nach Frankreich. Ein schnelles, und hektisches Leben, das ungemein produktiv war – und das eine Reihe unerhört lesenswerter Texte hervorgebracht hat.
In dem Band der „Anderen Bibliothek“ finden sich drei von ihnen – in mindestens einem Fall leider ohne die Fotografien, die im Erstdruck wohl zu finden waren. Das ist insofern bedauerlich, als die Verbindung zwischen Fotografie und Reportage für das Genre in den 1920er Jahren kennzeichnend ist. Zwar beschränkt sich das in einigen Fällen darauf, dass die Fotografie das Beschriebene zu bestätigen hatte. Aber bei den Großen des Faches und in einigen Publikationen kommen höchst interessante Verbindungen zustande, doppelte Erzähllinien, die aufeinander verweisen.
Dafür kommen die stilistischen Eigenschaften der Texte Londres‘ umso mehr zur Geltung: Drei Themen, die es in sich haben. Londres‘ China-Bericht von 1922, sein Bericht über die Situation des Juden um 1930 und schließloch seine Reise zu den Perlentauchern im Arabischen Meer.
Es sind freilich eigentümliche Reportagen, die Londres schreibt, wobei Leser nicht auf Distanz gehalten werden, sondern zu unmittelbaren Adressaten der Texte werden. Die China-Reportage nutzt Londres zudem um die Haltung des Unbehausten, desjenigen, dem die Reise zur eigentlichen Natur geworden ist, brillant zu präsentieren. Der Reisende, der zurückkehrt, findet alles genauso wieder vor, wie er es Monate zuvor verlassen hat. Alle sind genau dort, wo er sie verlassen hat. Von Panik erfasst, nimmt er die nächste Gelegenheit und den nächsten Zug, um ins nächstbeste Land zu reisen, was in diesem Fall eben China ist: Jean-Pierre, so nennt Londres sein Alter Ego in diesem Vortext, reist, wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen: „Das war sein Laster.“
Dass dies weiter reicht, ist dann zu sehen, wenn der Blick auf das Unbehauste der urbanen Gesellschaft fällt (auch wenn diese bei Londres noch in ihren Verhältnissen verfangen ist) oder auf die Exil-Situation der deutschen Intellektuellen wenige gut zehn Jahre später. Unbehaustheit mag Anfang der 1920er noch ein Laster sein (wenngleich nur auf seinem Niveau), wenige Jahre später wird sie zur generellen Last.
Dabei sind ihm die bereisten Länder und Kulturen Blaupausen der Situation im eigenen Land: China im Bürgerkrieg ist geprägt von Unsicherheit und Unklarheit. Niemand weiß so recht, wer hier was zu sagen hat. Die Kampagnenfürsten haben die legitime Herrschaft schon lange unterhöhlt, und kämpfen nun um die Vorherrschaft. Die gesellschaftlichen Strukturen haben sich weitgehend aufgelöst. Aber dennoch funktioniert diese Gesellschaft auf irgendeine Weise. Eben vielleicht weil sich so viel im Vergleich zu früher nicht geändert hat. Vielleicht auch, weil Gesellschaft und Machtapparat im Wesentlichen ohne einander zu berühren nebeneinander existieren können. Eine Parabel auf die Moderne, in der die sozialen Auseinandersetzungen immer mehr eskalieren.
Szenerie ist dabei irreal bis absurd, ohne Bezug zu einer gewohnten Form von Gesellschaft – was nicht nur die Fremdheit zwischen der Kultur der Leser Londres und seiner Zielkulturen hervorhebt, sondern die Reportage selbst wieder irrealisiert. Dass Londres dies so wie berichtet erlebt haben will, ist mehr als unwahrscheinlich. Der Text selbst inszeniert eine Realitätsform, die sich nur durch sich selbst verifiziert.
Ähnliches lässt sich auch in der Reportage Londres zur Situation der Juden in Europa und Palästina erkennen: Ihre Begründung findet sie im anwachsenden Antisemitismus in Europa. Aber sein Zugriff ist nicht vom vielleicht bornierten Blick der Assimilierten auf ihre osteuropäischen Glaubensgenossen geprägt, sondern von dem Befremden dessen, dem es unwahrscheinlich, ja unmöglich zu sein scheint, dass ein Volk unter solchen Umständen nicht untergeht. Der Antisemitismus in Europa aber prägt diese jüdischen Gestalten, die nicht als gleichberechtigte Bürger einhergehen, sondern als Geduldete. Trotz der extremen Armut, in der die jüdischen Gemeinden in Osteuropa leben, sind sie in ihrem Bekenntnis nicht erschüttert, was freilich auch Ausdruck der Unentrinnbarkeit ihrer Situation ist. Ihnen hilft keine Assimilierung, ja nicht einmal Anerkennung.
Ihnen hilft nur ein eigener Staat, in dem sie selbst das Maß der Dinge sind. Die in Palästina lebenden Juden gehen deshalb nicht mehr geduckt und geduldet umher, sondern selbstbewusst und vielleicht ein bisschen überheblich. Aber sie haben auch jeden Grund dazu, selbst wenn die Pogromwellen auch hier über sie hinwegschwappen. Palästina ist der Weg heraus aus dem jüdischen Ghetto, auch wenn dies nur über den jüdischen Staat gehen wird, der zu Londres Zeit eben noch nicht existiert. Freilich sind solche Beschreibungen nicht prophetisch, sondern lediglich logisch, und auffallend unberührt von den Fraktionierungen der eigenen Zeit.
Nicht minder berührt von den Friktionen der Moderne ist die Reportage über die Perlentaucher im Arabischen Meer: ein Bericht über einen Menschenschlag, der von seiner Arbeit körperlich in wenigen Jahren verbraucht wird. Die Taucher sind mit Dreißig Krüppel, geplatzte Trommelfelle, blind, gebrechlich, zu nichts mehr nutze, Abfall ihres Berufs. Noch die Blinden tauchen nach Perlen, und das nicht weniger erfolgreich als ihre sehenden Genossen. Ihr Lohn: zu vernachlässigen. Die Reise zu ihnen ist eine Reise in eine Zeit vor der Zeit, in der noch Regimente herrschen, die selbst im frühen 20. Jahrhundert bereits als anachronistisch gelten. Sämtliche Versuche, das Perlentauchen zu modernisieren, werden von den Tauchern selbst sabotiert. Sie leben in seinem System, das sich als ewig geriert, und sie doch nur umbringt. Dies aber im Blick, wird der Anblick der Perlen in den Juweliergeschäften des Westens unerträglich. Londres inszeniert dies eben nicht über die direkte Anklage, sondern indem er sich auf die Perlentaucher konzentriert und auf die eigenen Reaktionen nach seiner Rückkehr. Ein effektives Verfahren.
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