Gedichte aus der Mitte des Schweigens
Die ganze fernöstliche und also auch die chinesische Kunst sind erfüllt von der Ehrfurcht vor dem Raum. Unter Raum wird jedoch nicht wie im europäischen Verständnis – Kants Kategorie folgend – unendliche, ungeteilte Ausdehnung verstanden, gemeint ist damit vielmehr der Zwischenraum: umgrenzte Leere, die gewissermaßen als negativer Rahmen fungiert und dem Umgrenzenden Maß und Gestalt gibt. Auf der zeitlichen Ebene korrespondiert diesem Raum das Intervall, es ist spationierte Zeit, die einem Atemholen, einer Durchlüftung gleicht (nicht einer Pause, denn es findet etwas statt: eine Bewegung, angefüllt mit Leere, gleichsam einer anderen Materie).
Beides, Intervall wie Zwischenraum, sind konstitutiv für das chinesische Gedicht. Dies wird schon deutlich bei der bloßen Betrachtung der Buchseite: ein kleiner Schriftblock, umgeben von der Weiße des Blattes, der das Auge des Lesers affiziert. Denn zunächst ist das Gedicht Bild, Schriftbild, und es sind, wie Roland Barthes mit Blick auf das Haiku schreibt, gerade die kleinen Formen, die das Auge auf die Seite ziehen und es zur Lektüre verlocken.
Die Typographie ist demnach eine Determinante bei der Lektüre von Dichtung, chinesischer zumal, in der die Verse zu Ideogrammen werden – sich zusammenziehen zu einem neuen, nie gehörten Wort. Aber auch in der deutschen Übersetzung sind sie nicht bloß äußere Form, sondern – aber das ist fast schon eine Trivialität, denn was ist Dichtung ohne seine Gestalt? löst man das Poetische von seinem Körper, bleibt nichts – korrespondieren mit der inhaltlichen Ebene.
Bei der Lektüre von Bei Daos zuletzt auf Deutsch erschienenem „Buch der Niederlage“ überträgt sich auch in der Übersetzung von Wolfgang Kubin die sanfte Gewalt dieser Korrespondenz: Binnen kurzem führen Verslauf und weißer Raum zu einer Verlangsamung des Lesens, die mit einer tiefen meditativen Beruhigung einhergeht, eine Form entspannter Konzentration schafft, in der die rätselhaften Bilder der Sprache aufgehen, sich öffnen, langsam wie Blüten.
Denn Bei Daos Bildsprache ist nicht einfach. 1949 in Peking geboren, gehört er zu der jungen Dichtergeneration, die die heiße Phase der Kulturrevolution bewusst erlebte, die Landverschickung mitmachte, dort aus den revolutionären Träumen erwachte und zu schreiben begann. Sinnverlust, Sinnsuche, Hoffnung auf Erneuerung waren die Themen der jungen Dichter, die zuerst in selbstgegründeten Untergrundzeitschriften publizierten und, ihrem Subjektivismus folgend und an die klassische chinesische Dichtungstradition wie an moderne europäische Strömungen anknüpfend, sich von linientreuen Kritikern mit dem Vorwurf westlicher Dekadenz und des Obskurantismus konfrontiert sahen.
Das abwertend gebrauchte „obskur“ der Kritiker wurde von den Dichtern schon bald aufgegriffen und ins Positive gewendet; inzwischen ist es sogar offizielle Bezeichnung einer ganzen Strömung – menglong shi (obskure Lyrik). Diese Bewegung weg von der verbrauchten Propagandasprache hin zu subjektivem und daher häufig hermetischem Ausdruck, verstärkte sich noch im Zuge der erneuten ideologischen Verfestigung Chinas in den achtziger Jahren, vor allem aber in den langen Jahren des Exils, in das viele ihrer bedeutendsten Vertreter nach dem Massaker auf dem Tiananmen am 4. Juni 1989 getrieben wurden.
Was das Exil einem Dichter antut, ist in Bei Daos „Buch der Niederlage“ zu sehen. Liest man den Band zusammen mit seinem Vorgänger „Post bellum“, der gleichfalls Gedichte aus den Sammlungen „Landschaft über Null“ und „Etwas öffnet sich“, die in den mittleren Jahren des Exils entstanden, enthält, dazu aber auch die Gedichtzyklen „Alter Schnee“ und „Passagen“ aus der Frühzeit des Exils, so zeigt sich: Die früheren Gedichte thematisieren zwar den Abschied (so in dem Gedicht „Vaterland“: „Ich bin dabei, Abschied zu nehmen / von der Würde / die ich dir erneuern half“), aber in ihnen schwingt die Hoffnung auf Veränderungen in der Heimat und somit auf baldige Rückkehr mit. Das Exil ist noch etwas Neues, Ungewohntes, das kämpferisch stimmt, für das man noch Worte hat, von denen man meint, sie würden gehört und hätten eine Wirkung. Es erscheint als Provisorium, in dem es sich gar nicht recht einzurichten lohnt.
Erst nach Jahren wird es zu der bedrückenden Tatsache, der unabsehbar langen Zeit des Außen, in der die Worte verlöschen. Auch Bei Dao kennt seit nunmehr zwei Jahrzehnten das traurige Los des Emigranten, in der neuen Heimat nicht heimisch zu werden, und die alte, um die beständig die Gedanken und Erinnerungen kreisen, von der die Träume erfüllt sind, mehr und mehr zu verlieren. Wie andere Dichter litt und leidet er unter der Isolation, die das Exil bedeutet, auf die äußere Emigration folgte eine innere, die ihre Ursache im Abgeschnittensein von den kulturellen und sprachlichen Wurzeln, vom vertrauten Umgang mit Familienangehörigen und Freunden hat.
Die jüngste Sammlung, fünfzehn Gedichte aus den Jahren 2002 bis 2008, die das „Buch der Niederlage“ eröffnen, sind einer Schreibblockade abgerungen, an der Bei Dao seit dem Ende der neunziger Jahre leidet. Noch immer zieht sich das Thema des eingesperrten Ich auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben leitmotivisch durch das Werk, aber die Bilder wirken nur mehr wie surreale Abbreviaturen des Erlebten und Erlittenen. Sie kommen aus der Mitte des Schweigens, und dieses Schweigen umgibt sie, wie die weiße Leere die schwarzen Zeichen auf dem Blatt:
Zu guter Letzt setzen Dohlen
die Nacht zusammen: eine schwarze Karte
Ich bin zurück – Heimreisen
sind immer länger als Irrwege
länger als ein Leben. . .
Peking, laß mich
anstoßen mit deinen Laternen
laß mein weißes Haar den Weg weisen
durch die schwarze Karte
ganz so wie ein Orkan, der dich fliegen heißt. . .
Schwarz und Weiß, Nacht und Tag, Zeichen und Leere, hier erscheinen sie als Umkehrung der schwarzen Schrift auf dem weißen Bogen, sind sie letzte helle, amorphe Spuren in einer Welt, die sich zur Nacht verdüstert.
Es braucht Zeit, diese Bilder aufzunehmen, man muss sich leer machen von eigenen Gedanken, eigenem Wollen, sich öffnen für das, was einem begegnet. Die Lektüre verlangt stille, geduldige Konzentration, wenn man sie aufzubringen vermag, wird man beschenkt: Man tritt in einen anderen Raum, den des Zwischen, des Transit, den Bei Dao wie keinen anderen kennt – dort kann man nicht heimisch werden, aber Bilder schauen wie nirgendwo sonst.
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