Ritter buchstabiert das Alphabet der Ästhetik des Museums
Noch auf dem Krankenlager plante Henning Ritter sein letztes, postum erschienenes Buch „Die Wiederkehr der Wunderkammer“. Es behandelt eine der großen Leidenschaften Ritters, die Geschichte des Sammelns, einschließlich aller damit verbundenen Phänomene.
Ritter fragt in den hier zusammengestellten Aufsätzen, was das Charakteristische an der Wunderkammer gewesen ist. Ihn interessiert, wie das „Konzept“ der Wunderkammer die Wahrnehmung von Kunstgegenständen beeinflusst hat. Und wann und warum sich dieses „Bewahren und Sammeln“ geändert hat.
Zunächst stellt Ritter anhand von Künstlerporträts dar, wie der Vergleich der Werke unterschiedlicher Künstler, oder auch die Konzentration auf einen Künstler und das In-Beziehung-Setzen unterschiedlicher Schaffensperioden, die Wahrnehmung von Bildern beeinflusst. Wie ein Bild gerahmt ist, welche Abstände zwischen den Bildern gelassen werden und welche Farbe die Wände haben, an denen die Gemälde hängen, all das bestimmt entscheidend die Wahrnehmung und die gesamte Ästhetik des Museums.
Das mag wie ein Allgemeinplatz klingen, aber Ritter begründet diese Tatsache sehr anschaulich, indem er die Rolle der Ausstellungsmacher beleuchtet, die den Rahmen vorgeben, in dem sich die Kunstwerke entfalten können, einen Rahmen, der im besten Fall neue Perspektiven eröffnet, indem Kunstwerke zueinander in Beziehung gesetzt werden oder dem Betrachter Fragen stellen. Zum Beispiel die, die Ritter sich stellt: „ob die Kunst der Revolution eine Revolution der Kunst ausgelöst habe.“ Hier schließt sich der Kreis zu einem weiteren Thema, das Ritter leidenschaftlich beschäftigt hat: die Französische Revolution. Dementsprechend zieht er zahlreiche und ausführliche Verbindungen zwischen Revolution und Kunst. Die Anfänge für die „Geburt des modernen Museums“ sieht Ritter in der Revolution.
Zunächst aufgrund der Notwendigkeit, die Kunstschätze vor Vandalismus zu retten, wurden sie, beeinflusst durch die Gedanken der Aufklärung, nach Epochen geordnet, um die Fortschritte der Kunst sichtbar zu machen.
Der nächste Schritt führt Ritter vom Künstler zum Sammler der Kunst, der nicht nur Betrachter ist, sondern Bewahrer; einer, der fördert und dadurch vielleicht indirekt auch fordert. Es geht um Anschauungslust und Sammeltrieb. Dabei sind bei den bis ins 18. Jahrhundert vorherrschenden Sammlern „Schauwert und Auskunftswert [noch] ungeschieden.“ Ritter beschreibt einen der letzten Sammler in dieser Reihe, um die Schwelle zur nächsten Phase der Kunstbetrachtung vorzubereiten. Albertus Seba war noch getrieben von der Sucht nach dem Außergewöhnlichen, nicht nach dem Repräsentativen. Ritter resümiert: „Die Pracht der Abbildungen gehört dabei zum Alten, zum Kult des Wunderbaren und Seltenen, während die Fülle der Darstellungen ein Verlangen nach Ordnung und Überschau weckt, das das Neue vertritt.“
Das Ende des „alten Sammelns“ manifestiert sich im Braunschweiger Kunst- und Naturkundekabinett als Vorläufer des Museums. Diesen Status, betont Ritter, hat das Braunschweiger Kabinett allerdings nur, weil hier der Öffentlichkeit Zutritt gewährt wurde. Die „Idee“ mit der ausgestellt, gesammelt und gezeigt wurde, hatte noch nichts vom modernen Museum. So waren Kunst- und Naturwissenschaft noch eng miteinander verbunden, wurden gemeinsam gesammelt und ausgestellt. Die „moderne“ Trennung war noch nicht vollzogen. Die heutigen Sehgewohnheiten sprengt ein derartiges Konzept, bei dem laut Ritter alles „in die Einzelschicksale von Objekten“ zerfällt.
Nachvollziehbar wird das am Beispiel der Museumsinsel in Berlin. Dort stellte das Neue Museum eine kulturgeschichtliche Wende dar. Die Unbefangenheit mit der Wilhelm von Bode sammelte und eine fiktive Umgebung für seine Kunstwerke schuf, sprengte den Rahmen eines Kunstmuseums. Die ethnographische Sammlung wuchs dermaßen, dass 1873 schließlich ein eigenes Museum außerhalb der Museumsinsel notwendig wurde, das sich zunehmend einer wissenschaftlichen Ausrichtung der Rekonstruktion untergegangener Kulturen widmete.
Ritter beleuchtet dabei Bodes teilweise undurchsichtige Rolle. Denn neben Bodes vielfach bewunderter umfassender Kenntnis hat er Bilder durchaus nach eigenen Vorstellungen restaurieren lassen, nackte Jesuskinder wurden nachträglich in einen Schal gewickelt, der unliebsame Joseph im Bild verschwand gleich ganz. „[...] die souveräne Art, mit der Bode, ein niedersächsischer Herrenmensch, seinen Restaurator die alten Bilder bearbeiten und „stimmen“ ließ, entsprang seinem merkwürdigen Gefühl, als Käufer eines Stücks sozusagen dessen Herr über Leben und Tod zu sein.“
Immer wieder ergänzt Ritter seine Betrachtungen zur „Ästhetik des Museums“ mit Porträts einzelner Künstler.
So sieht er Goya als Präfiguration der Moderne. Als den Maler, der in seinen Gemälden die Kehrseiten des Offensichtlichen zeigt. Ritter schreibt:
„So lehrt Goya, im Märtyrer nicht nur den Verklärten, sondern den Gepeinigten zu sehen und umgekehrt in der Erschöpfung des Leidenden auch eine Verklärung.“
Goyas Gemälde sind somit auch ein Widerspruch gegen moralische Gewissheiten, der vermeintlichen Eindeutigkeit setzt er Vielstimmigkeit entgegen.
„Goyas Pakt mit dem Betrachter ist nicht auf Belehrung aus, sondern fordert nur unerschrockenes Mitgehen.“
Daumier ist für Ritter ein Vorläufer der „Kriegsfotografen“. Eine Überzeugung, die er aus der Betrachtung des Gemäldes gewinnt, die das Massaker der Nationalarmee an Arbeitern und ihren Familien zeichnerisch dokumentiert. Ohne Titel und Kommentar soll das Bild den Betrachter zum Augenzeugen machen.
Von Goya bis Susan Sontag schlägt Ritter einen Bogen indem er Daumier und Dorés „bildliche Beschwörung der Aktualität“ in „jener Haltung der Einfühlung und leidenschaftlichen Teilnahme“ verortet, „die alles andere als Predigten sind“. Einer Haltung, der vielmehr die Überzeugung zugrunde liegt, „daß der Mensch als Betrachter von Elend und Grausamkeit seiner Selbsterkenntnis am nächsten komme.“
Das Verweben von Bildbetrachtung und Überlegungen zum Museum, das Ritter in der „Wiederkehr der Wunderkammer“ konsequent durchhält, trägt der Tatsache Rechnung, dass Bilder immer auch Erzählungen sind, Abbildungen von Erzählungen, die der Maler aufzeichnet und anderer Erzählungen, die sich beim Betrachter entfalten. Diese Erzählungen müssen nicht deckungsgleich sein, aber sie sollten einander befruchten. Ritter schildert dieses Phänomen exemplarisch anhand der wechselseitigen Beeinflussung von van Goghs Bilder durch dessen Lektüre von Michelet, der sich seinerseits wiederum von einer Skulptur beeinflussen ließ. Ritter zitiert van Gogh: „[...] weil Literatur und Malerei keine getrennten Gebiete sind, ihr Unterschied bestehe einzig in ihren Ausdrucksmitteln, aber wichtig ist, was sie ausdrücken.“
„In der Wunderkammer, und das erklärt das heutige Interesse an ihr, waren Gegenstände und Bilder aus Natur, aus Geschichte und Kunst in „verrückten“ Zuordnungen miteinander verklammert“, schreibt Ritter und ergänzt, dass die Etablierung des Museum, die fast zeitgleich überall in Europa stattfand, „ein Übergang vom Schatzhaus zur öffentlichen Sammlung von gelehrter Versenkung zu öffentlichem Zeigen, von Weltmodellen zu Kunstwelten“ darstellte.
Insofern ist das Museum mit seiner sehr rationalen, wissenschaftlichen Herangehensweise auch ein Verlust.
Die letzte Frage, der Ritter in seinem Buch nachgeht, ist, welche Art der Kunst heute eine Kunst der Massen sein kann.
Das Problem ist alt, die Masse, die sich die Kunst wünscht, existiert nicht. Mit diesem Problem waren schon Brecht und die Futuristen konfrontiert. Anhand von Christos Verhüllungskunst zeigt Ritter, dass Kunst immer auch eng mit dem Zeitgeist, mit gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verknüpft ist. Vielleicht weil es die Wunderkammern immer noch gibt, es aber einen wachen Geist, wie den von Henning Ritter braucht, um sie mitsamt ihren vielfältigen Verbindungen und teilweise „verrückten“ Zuordnungen zueinander wahrzunehmen.
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