Dichtertotenbriefe

Briefe an S wie Szymborska

Paul Pfeffer schreibt an Wislawa Szymborska

Liebe Wislawa,

Erinnerst du dich an deinen letzten Besuch bei mir? Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, sagtest du ohne Vorwarnung:

„Es ist ein großes Glück, nicht genau zu wissen, in welcher Welt man lebt.“

Dann beugtest du dich vor und nipptest vorsichtig an deinem Tee. Er war noch etwas zu heiß, ich hatte ihn gerade eingegossen, deshalb spitztest du die Lippen und bliesest sachte über die Teeoberfläche. Dieses sachte Blasen über den Tee liebe ich besonders an dir, das wollte ich schon immer mal sagen.

Ich wusste übrigens, weshalb du auf meinem Sofa saßest. Es kommt ab und zu vor, dass du auf eine Tasse Tee vorbeikommst, weil du eine Schreibpause brauchst, gib's zu. Wir unterhalten uns dann gewöhnlich über dies und das. Dabei hast du so eine Art, manchmal Sätze einzustreuen, die wahnsinnig bedeutungsschwanger klingen wie zum Beispiel: „Es ist ein großes Glück, nicht genau zu wissen, in welcher Welt man lebt“. Ich weiß, du kannst nichts dafür, du bist Lyrikerin.

Ich schaute dich mit einem raschen Seitenblick an und beschloss, eine Weile verstreichen zu lassen, bevor ich eine meiner schlichten Fragen stellte. Schlichte Fragen, so pflegst du nämlich meine Einlassungen zu nennen, die mit schöner Regelmäßigkeit auf deine bedeutungsschweren Sätze folgen. Das war wieder so eine Situation. Was soll ich machen? Mir fallen nun mal nur schlichte Fragen ein. Also fragte ich:

„Wie meinst du das?“

Diesmal schautest du mich besonders missbilligend an. Völlig klar, dass diese Frage mehr als schlicht war. Du fuhrst dir kurz mit der Zungenspitze über die Lippen, was du immer tust, wenn du zu einer längeren Erklärung ansetzt. Ich wollte aber gar keine längere Erklärung hören, deshalb schob ich nach:

„Ich meine, wir leben doch in dieser Welt hier, die um uns herum ist. Oder gibt’s etwa noch eine andere?“

Jetzt wurde dein Blick geradezu mitleidig.

„Ach, mein Lieber“, sagtest du mild, „so schlicht wie du möchte ich auch mal sein. Du schaffst dir einfach Gewissheit, indem du eine andere Möglichkeit als diese Welt um uns herum noch nicht mal denkst.“

„Sollte ich das?“

„Ja, solltest du, damit du mal auf andere Gedanken kommst. Deine führst du immer in demselben Käfig spazieren.“

„Aber ich merke gar nicht, dass es ein Käfig ist.“

„Genau, das ist es ja. Du merkst es noch nicht mal. Das kommt von deinem bedauerlichen Mangel an Fantasie.“

Ich kann diesen Wortwechsel fast wörtlich wiedergeben, weil ich ihn in meinem Gedächtnis gespeichert habe wie auf einer Festplatte. Du gerietest langsam in Fahrt. Du blitztest mich mit deinen hellgrauen Scheinwerfern streitlustig an.

„Ach so“, sagte ich, „du meinst Fantasiewelten. Sag das doch gleich. Davon gibt’s natürlich eine ganze Menge, sogar in meinem Kopf.“

Ich merkte sofort, dass es unklug von mir gewesen war, das zu sagen. Damit war quasi die Luft raus. Ich hatte dir eigentlich gar nicht so früh zustimmen wollen, aber es war mir so herausgerutscht. Natürlich meintest du Fantasiewelten, was sonst? Du bist halt eine Dichterin und bewegst dich ständig darin. Aber ich hätte dich noch etwas hinhalten sollen. Eigentlich liebe ich es, wenn du dich erregst und mir etwas erklären willst, was ich schon weiß. Ich finde dich dann viel attraktiver als sonst, deine Wangen röten sich und deine Bewegungen werden elegant und raumgreifend. Vor allem mag ich das Blitzen deiner Augen, wenn du richtig in Fahrt kommst.

„Na also“, sagtest du fast mütterlich, „mir scheint, du fängst langsam an zu verstehen.“

„Unterschätz mich nicht, Wislawa!“, sagte ich so beiläufig wie möglich. Du zogst eine Braue hoch und schautest mich aufmerksam an. Der Ton war ihr neu. Wir schwiegen eine Weile.

„Da ist noch etwas“, sagte ich. „Du hast gesagt, dass es ein Glück sei, dass wir nicht so genau wüssten, in welcher Welt wir leben.“

„Ja, habe ich gesagt.“

„Sogar ein großes Glück.“

„Ja, sogar ein großes.“

Ich ließ zwei Sekunden verstreichen. Wegen des Effektes.

„Was meinst du damit?“

Dieselbe schlichte Frage wie am Anfang.

Darauf warfst du mir einen derart stacheligen Blick zu, dass ich mich schleunigst in die Küche verzog, um zwei Stücke von meinem selbstgebackenen gedeckten Apfelkuchen zu holen, den du so liebst.

Ach, jetzt hätte ich fast vergessen, weshalb ich dir überhaupt schreibe: Ich wollte dich mal wieder auf einen Tee einladen, es gibt auch wieder gedeckten Apfelkuchen.

 

Sei herzlich gegrüßt von
Paul

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