Symmetrisch zum Wind
14 Erzählungen - 14 Namen: 7 Menschen, 7 Orte, Namen von Städten, Hoffnungen und Sehnsüchten, von Fragen, Anfängen und Enden.
Zum Glück interessiert mich nicht so sehr, was sondern wie erzählt wird, denn was ist austauschbar bzw. am besten in der Form aufgehoben. Der Autorin geht es auch so, behaupte ich mal, denn jedes Wort scheint überlegt bzw. intuitiv richtig gewählt. Ilma Rakusas Sprache ist poetisch, die Sätze knapp und von einer dichterischen Präzision, die die Stimmung unmittelbar spürbar macht.
"Die Ladenpassage ist belebt, die Zeit rinnt durch sie hindurch, ich weiß nicht, der wievielte ist und warum 'Alice on Wednesday' sich hierher verirrt hat. Der weiße Hase hoppelt über eine winzige Tür, durch die sich hineinzwängt, wer Mut dazu hat. Drüben viktorianische Kleider und noch weiter drüben ein Manga-Shop, Fotografieren verboten."
Eine japanische Großstadt. Öfter kommt das Meer und ein Fluss vor oder ein gottverlassenes Dorf vor. Zerrissen zwischen Tradition und Aufbruch oder völlig losgelöst von der Zeit. Bis auf an Wildnis mangelt es immer. Geschichtsschreibung passiert woanders, wann anders. Hier findet man dafür Geschichten ohne Zusätze, sie sind echt, jedenfalls denkt der Leser nicht, es hätte anders sein können. Wie funktioniert das eigentlich, dass sich der Leser fast so nah an den Geschehnissen fühlt wie die Erzählerin?
Geschehnisse von großer Natürlichkeit, gleichzeitig sehr konstruiert.
"Sag mal", sagte er (Misi), als zöge er die Worte aus dem Wasser, "kennst du dieses Gedicht?" Wie Dichter reden auch manchmal die Protagonisten, aber das stört nicht, wirkt nicht artifiziell, damit habe ich geradezu gerechnet. Als ich 1994 diese (inzwischen von mir verehrte) Autorin durch eine poetische Handlung entdeckte, zusammen mit einem Freund und Kollegen: wir sammelten orangefarbene Dinge und schenkten sie uns. "Jim, 7 Dramolette" lag als Mängelexemplar (edition Suhrkamp) in der Fundkiste. Unglaublich. (Nun mit Bleistift hineingekritzelt: "* von D., weils orange ist.")
"Anton: Voran ist so gut wie Rosa.
Baruch: Wohin jetzt?
Anton: Wenn ich links sage, weiß ich nicht, gehts zum Ziel oder zurück.
Baruch: Zum Arsenal?
Anton: Zum ägyptischen Löwen, ja."
Eine Zeit, in der man nicht unbedingt erzählen musste. Heute muss man das ja wieder, aber zum Glück tut es Rakusa nicht restlos.
In "Maurice" verlieben wir uns in einen fünfzehnjährigen Skifahrer. "Er war fünfzehn, als wir uns trafen, sagen wir fünfzehn." Die ersten Küsse. Im Hintergrund, verhalten, eine Mutter und eine Schwester. Und plötzlich sind sie alle weg. Durch einen Zufall erfährt die Ich-Erzählerin Jahre später von seinem Schicksal. Beim Teppichkaufen.
"Der Ladenbesitzer schenkte mir Tee ein und legte einen Keks neben das Glas.’Väter und Söhne, Sie wissen schon, mal geht es gut, mal nicht.'"
Maurice gehört zu der Familie eines Teppichhändlers. Das Muster der Geschichte wird weitergewebt - alles hängt zusammen - ohne zu viel zu erklären; manches bleibt offen, und spannend, wie im echten Leben.
Die letzte Geschichte führt ans Ende dieser Welt, nach Sibirien, Koljansk, ein Dorf aus der Sowjetära? 300 und noch was Einwohner, traurig, trostlos, trist, aber das sagt nichts, annähernd. Reiseberichten zufolge bleiben Sie lieber zuhause. Eines Sommers bekommt die Dorfschule ein neues Dach, eine Art Hoffnung, aber auf was; die Menschen gehen wieder zur Friseuse, die Friseuse backt Kuchen. Die Hauptperson ist das Dorf selbst, wie bei Dylan Thomas' Milchwald...
"Alle zwei Tage rattert ein Güterwaggon vorbei, und jemand murmelt 'Generalowska'. Der Bahnhofsvorsteher stottert, trinkt endlos Tee und sagt manchmal aus heiterem Himmel: 'Drecksack!'"
Ilma Rakusas Erzählweise also, die ich symmetrisch zum Wind nennen möchte, aufs Segeln anspielend, vereint dreierlei: sie folgt realistischen Handlungssträngen / fantasiert dagegen mit Sprache und Form / sie ist immer unterwegs. Letzteres ist auch ein Stück Biografie, ist doch die Autorin als Kind einer Ungarin und eines Slowenen in der Slowakei geboren, kam dann über Budapest, Ljubljana und Triest nach Zürich, studierte in Paris und St. Petersburg.
Und schau ich mir die Erzählperspektive an, empfinde ich sie als doppelt: es gibt ein Ich, was direkt beteiligt ist und noch ein Ich darüber, sonst wären solche Passagen, wie die folgende, gar nicht möglich:
"Sie hörte sich an, was ich zusammenphantasierte. Krauses Zeug, aus Träumen geschnippelt, mit einem harten Kern Wahrheit. 'Wollte auf einen fahrenden Zug aufspringen, aber die Herzenge verhinderte es... Monströse Kippvorgänge und Rufen ringsum. Ich falle, ich wurde auf den Bahnsteig hinuntergeworfen. Orangefarbenes Morgengestirn. Er fährt. Der Zug, der Himmel...'"
Aber will der Leser hier immer folgen, oder ist er nicht irgendwann hin- und hergerissen zwischen den beiden Ichs, fühlt mit, liebt, verstrickt sich aber nie allzu sehr bzw. hält auch nicht inne... und macht er in der Mitte des Buches den Übergang von menschlichen Schicksalen zu geografischen Schicksalen so ohne weiteres mit? Das ist wohl die einzige, winzige Schwäche des Buches: Manch ein Ort bleibt mir zu zweidimensional, wenn auch leuchtend und sprachlich dicht, manch ein Protagonist wird mir zu schnell wieder frei gelassen. Und irgendwo müsste es hier noch eine 'Klammer zu' geben.
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