Preis der Hotlist 2014
Draußen wird es herbstlich. Recht früh in diesem Jahr und vom hohen Hochsommer habe ich kaum etwas mitbekommen. Das darf man nicht zu oft machen, zumal die Anzahl der Sommer eines Lebens begrenzt ist. Hoffen wir auf einen schönen Spätsommer im September oder einen goldenen Oktober.
Ich glaube, die Würfel sind gefallen, zumindest was meine Auswahl für die nächste Runde betrifft und natürlich bin ich mir unsicher, wie immer, wenn es darum geht, abzuwägen, ein Ranking zu erstellen, was immer auch aussondern heißt. Dieses aussondern erzeugt doch immer auch ein schlechtes Gewissen. Aber es beruhigt mich durchaus, dass die anderen Juroren dafür sorgen werden, dass es das eine oder andere Buch zurück auf meinen Schreibtisch spült.
Ich werde folgende Bücher nominieren
Kai. Von Manuel Paschen. Diese Geschichte hat mich sprachlich überzeugt. Ein Buch über den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens. Ein Dauerthema der Literatur. Dabei wird man sich wohl immer an „Der Fänger im Roggen“ messen lassen müssen und Paschen schneidet in diesem Vergleich nicht schlecht ab.
Asseblick. Von Marie Luise Könnecker. Hier formen sich ein Blick und eine Sprache an politisch brisanten Problemlagen. Landschaft erscheint unter dem Leuchten des nuklearen Restmülls. Sensibel und schön. Großartige Fotos von Ernst Fischer.
Kanns nicht und wills nicht. Von Lydia Davis. Eine mir neue Facette der Short Story. Oder eigentlich einige neue Facetten mit Anleihen an Miniatur und Gedicht. Und es ist für mich immer wieder überraschend was die Kolleginnen aus dieser Form noch alles herausholen.
Eine Nacht, Markowitz. Von Ayelet Gunda-Goschen. Das Debüt einer israelischen Autorin. Ein Roman über die Gründungszeit Israels. Humorvoll und bitter.
Menschen am CERN. Von Andri Pol. Ein Fotoband über die utopische Kraft naturwissenschaftlicher Forschung und mein heimlicher Favorit.
Ich bin gespannt, was die anderen Jurorinnen und Juroren ausgewählt haben.
09.08.2014
Eines habe ich bei der Juryarbeit gelernt. (Im Grunde hätte ich es wissen müssen.) Turbolektüre ist nicht die Art des Lesens, die ich bevorzuge, auch wenn ich schon immer ein schneller Leser war. Aber hier ziehen die Texte an mir vorbei wie die Feldränder neben der Autobahn, während ich am Steuer sitze und das Gaspedal durchtrete. Dieses Lesen ist auf Dauer lebensbedrohlich, weil man sich lange mächtig konzentrieren muss und man erinnert sich später an einige Bücher wie an Orte, die man durchfahren hat, und die man, sollte sich die Gelegenheit ergeben, noch einmal aufsuchen würde. Diese Bücher, die während man sie durchrast, kleine Erinnerungsanker auswerfen, werden dann auch die sein, die ich für die nächste Runde nominieren werde.
Nebenher stapeln sich die Romane verschiedener Art.
Darunter einer des französischen Autors Tanguy Viel. Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman, heißt es im Untertitel. Übersetzt wurde er von Hinrich Schmidt-Henkel. (Kaum ein anderer Übersetzername, den ich öfter lese – was macht Schmidt-Henkel eigentlich nachmittags.)
Beim Reinlesen ins Buch wird schnell deutlich, dass der Untertitel sich auf Roth bezieht und die von Roth und einigen anderen in seiner Nachfolge praktizierten Form realistischen Erzählens. Vielleicht ist dies die Art von Männern jenseits der 60 mit dem Altern fertig zu werden, denke ich und denke auch voller Melancholie an Roth' Anfänge und die Zuckerman Trilogie, die lange Zeit zu meinen Lieblingsbüchern gehörte.
Und Tanguy hat vielleicht Recht, wenn er die Konstruktion in den Romanen als Kulissenbau wahrnimmt und gleichermaßen Amerika als Kulisse konstruiert. Dennoch fehlt mir im Nachbau der Kulisse etwas von der Dringlichkeit des Originals. Mag sein, dass auch das schon aus Pappe war, aber das kann kein Vorwurf gegen die Kunst sein, dass sie mit eigenem Materialien eigene Realität schafft.
Paul Auster hat das in den Neunzigern in seinen Romanen durchgespielt, hat die Realitätssimulation zur Realität werden lassen. In dieser Hinsicht ist die Postmoderne an ein Ende gelangt und auch Auster hat die Gebrechen des Alters als Thema entdeckt. Die Frage ist, ob es da noch mal ein Zurück gibt. Wahrscheinlich nur in anderer Besetzung.
Manchmal denke ich, dass der Roman als Form am Ende sei. Doch dann überraschen mich immer wieder dicke Bücher, wie eben das von Gundar-Goshen über die Anfangsjahre Israels. Hier denke ich, hat der Roman eine Bestimmung gefunden, weil er durchscheinend wird, etwas von der anderen auch politischen Realität preisgibt, aus der er sich speist. Er speist sich nicht allein daraus, aber und indem er seine literarische Wirklichkeit vorstellt, interpretiert er eben auch außerliterarische Realität.
Und dann schlunzt man eben auch in die Texte, die über das Buch geschrieben wurden und trifft auf einen Verriss von Eva Menasse. Zum Glück habe ich diese Kritik erst nach dem Buch gelesen.
07.08.2014
Ja, ich lebe noch.
Und für einen Moment hatte ich das Gefühl, vollständig Text zu sein. Auf Knopfdruck aus mir herauszurieseln. Aber Essig. Nix rieselt, nix tropft.
Gestern habe ich einen Tag lang die Lektüre ausgesetzt. Das war schön, zumal es eine Art Familientreffen in meiner Heimatgemeinde Chemnitz gab. Achtzig Kilometer südlich von Leipzig, und seit den Siebzigerjahren als Hauptsehenswürdigkeit ein übergroßer Kopf. Karl Marx mit steinernem Bart.
Einen Chemnitzer Autor gibt es auch unter den Einreichungen. Der Roman Fiedlerin auf dem Dach von Günter Saalmann wird im Eichenspinnerverlag erscheinen. Ich glaube, ich bin einem Teil des Textes schon einmal beim mdr-Kurzgeschichtenwettbewerb begegnet.
Geboren ist Saalmann allerdings in Waldbröl, wer weiß, was ihn nach Chemnitz verschlagen hat, oder vielleicht besser nach Karl-Marx-Stadt, wo ich ihm als Autor zuerst begegnet bin. Allerdings nicht im Buch, sondern auf einer Schallplatte, die er gemeinsam mit dem Jazzposaunisten Joe Sachse eingespielt hatte. Kindergedichte und Freejazz. Das ging damals und es hat mir und meinen Kumpels einigen Spass gemacht, obwohl wir uns dem Kindesalter längst entwachsen sahen, die erweiterte Oberschule besuchten und uns auf das Abitur vorbereiteten. Diese Platte war Kult. Saalmannverse (immer noch im Kopf) zum Beispiel diese. Wut. Wut. Die Mutter hat es gut. / Liegt da nicht ihr Clip? Flip. Das Gedicht hieß, soweit ich mich erinnern kann Staubsaugen.
Jetzt aber bin ich zurück in Leipzig und bedauere ein wenig, dass ich gerade nicht von Schallplatten, sondern von Büchern umgeben bin. Ach warum wurden die Texte zur Hotlist nicht komplett auf Tonträgern veröffentlicht?! Es ist schwer, wieder ins Lesen zu kommen! Mir bleibt noch gut eine Woche, um mich durch den Restberg zu schaffen. Ein Schlaraffenland im Endstadium. Ich stehe kurz vor dem Platzen.
Und am Ende des Schreibtisches stapeln sich noch die Anthologien.
04.08.2014
Über Gestaltung
Noch zwei Wochen reine Lesezeit bleiben mir, bis ich meine Vorschläge formulieren muss und ich bin zugeben, ein wenig erschöpft. Ich habe nicht wenig Lust, mich für eine Weile in den Regen zu stellen, der gerade auf Leipzig niederprasselt. Hätte es so ein Kinderbuch, das aus Weichplastik besteht, ich könnte es mitnehmen. Aber Kinderbücher kommen im Konvolut nicht vor und so bleibe ich an meinen Schreibtisch gefesselt. Aber weil man nicht unentwegt lesen kann, kommt man ins Tasten und Beobachten. Gestalterische Fragen werden einem auf seltsame Art Gegenstand.
Über den Sandpapiereinband des Handbuch der Ratlosigkeit hatte ich bereits geschrieben. Hier tritt das Moment der Gestaltung vielleicht am deutlichsten hervor. Dennoch bleibt es auch ein Versuch, dem Text etwas zuzusetzen, was ihn unterstreicht, dem Text zuzuarbeiten bzw. ist die Gestaltung noch vom Thema des Buches motiviert. Ich schreibe „noch“, weil dieses Moment in anderen Produktionen zuweilen kippt, die Gestaltung selbst Thema des Buches wird und der Text zum illustrativen Moment.
Zwei weitere Bücher gibt es im Konvolut, bei denen sich die Gestaltung gewissermaßen aufdrängt, weil sie die Konvention unterläuft.
Zum einen ist es der Roman Seltsame Schleife von Rolf Niederhauser. Erschienen ist er im Rotpunktverlag. Hier handelt es sich um den umfangreichsten Text im Wettbewerb. Auf 721 Seiten erstreckt sich der Text und der Clou ist, dass sich nach der Hälfte die Leserichtung ändert. Man liest also jeweils nur rechte Seiten und dreht, nachdem man das Buch einmal durchgegangen ist, einmal um.
Ich frage mich allerdings, ob der Verlag auch an eine Linkshänder Ausgabe gedacht hat, denn für mich als Rechtshänder erweist sich dieses Verfahren als recht bequem. Anfänglich ist man irritiert, weil man aus alter Gewohnheit auch die Linke Seite lesen will, aber sofort scheitert. Man gewöhnt sich schnell, denn der Text entwickelt einen gewissen Sog und kommt natürlich dem Pynchongeübten Leser zupass. Allerdings muss ich zugeben, dass ich außer den Kurzgeschichtenband Slow Learner und Pynchons ersten Roman Die Versteigerung von Nr. 49, der für Pynchons Verhältnisse relativ kurz war, kein anderes seiner Bücher je zu Ende gelesen habe. (Doch! Vineland fällt mir gerade ein, für Pynchons Verhältnisse mit 300 Seiten eine Short Story.) Aber angefangen habe ich sie alle und den schönsten Anfang hat Mason und Dixon.
Seltsame Schleife beginnt auch relativ furios und man hat schnell ein Stück des Buches weggeratscht, zumal man ja nur jede zweite Seite liest, und über das spanische Goethezitat als Motto hatte ich schon berichtet.
Bei dem Buch Fallen, das im Dresbach Verlag erschienen ist, handelt es sich um eine Abschlussarbeit der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Das Fallen als Motiv des Textes wird hier in der Aussage grafisch umgesetzt und der Text und mit ihm das Buch beschreibt bei der Lektüre eine Drehbewegung. Zumal der zweite Text englisch ist und im Gleichklang des Wortes Fallen in der sprachlichen Verschiebung in der Zeitform liegt.
Wenn man schneller lesen könnte, würde das Buch wirbeln wie ein herbstliches Blatt. Und auch dieses Buch erschließt sich dem Leser aus beiden Richtungen, hier mit zwei gegenläufigen Texten. Es ist ein sehr schönes Produkt, das die Grenze zur bildenden Kunst überspringt. Das Buch als Objekt, aber im Rahmen seiner Reproduzierbarkeit, kein Künstlerbuch im herkömmlichen Sinn.
01.08.2014
Sollen wir mit Bekenntnissen beginnen?
Zuerst vielleicht dieses: Ich mag Musil nicht. Das mag an dieser Stelle etwas merkwürdig und verwegen klingen, angesichts meiner vielen intellektuellen Freunde, aber es ist so. Tausend Mal (gefühlt) habe ich Der Mann ohne Eigenschaften begonnen, das Buch hat mich nie ergriffen. Viel lieber las ich Sekundärliteratur über Der Mann ohne Eigenschaften. Das Buch selbst bereitete mir weiterhin Probleme, hätte ich inzwischen den Gedanken es lesen zu müssen um Teil einer Community zu sein, nicht abgelegt.
Törleß habe ich gelesen, aber auch mit wenig Begeisterung.
Denn ich mag keine Internatsgeschichten. Auch Hanni und Nanni mussten meine Töchter ohne mich schauen. Vielleicht liegt es an meiner Abneigung gegen das, was ich mir unter einem Internat vorstellte: eine Aufzuchtanstalt für den Nachwuchs der herrschenden Klasse nämlich. Ich gebe zu, dass meine pseudoproletarische DDR-Herkunft mir sicher so manchen Stein in den Leseweg gelegt hat. Allerdings haben es weder Törleß noch Hanni und Nanni geschafft, das Ding wegzurollen. Ein wenig vielleicht hat Harry Potter daran gezerrt.
Ich mag es weiterhin nicht, Druckfahnen zu lesen. Es geht einem zu viel durch die Lappen, und ich bewundere Lektoren und Korrektoren, die damit klarkommen, sehr.
Vorgestern fand ich die Fahnen von Orhan Paschens Internatsgeschichte Kai in der Post. Gewissermaßen ein Nachzügler der Hotlisteinsendungen. Das Buch wird demnächst bei Matthes und Seitz erscheinen. Und ich wollte gestern nur mal schnell reinlesen, habe die Fahnen dann aber in einem Zug durchgelesen. Mag sein, dass es an der Frau lag, die Kai am Anfang die Mauersegler gezeigt hat oder an Kais Vermögen, Gitarrenspiel zu simulieren und zwar so, dass er in eine Band aufgenommen wird.
Aber viel mehr liegt es, denke ich, an der Struktur des Textes, der sich gewissermaßen aus Prosaminiaturen zusammensetzt und so ein Handlungsgewebe ergibt. Er ist auf seine Art kunstvoll indirekt. Und die Kleinteiligkeit ermöglichte mir auch Freude bei der Lektüre der Fahnen.
Jetzt heißt es, zu anderen Lektüren zurückzukehren.
30.07.2014
Ich bin also mal wieder Mitglied einer Jury, obwohl ich mir jedes Mal sage: Ich mache das nicht mehr, es sei denn, ich werde fürstlich entlohnt. Aber Macht ausüben und Jurytätigkeit, so heißt das in bescheidener Form, hat auch seinen Reiz.
Abgesehen davon, dass mir der Lesemarathon diesmal das äußerste abverlangt, plagt mich natürlich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie bekomme ich meine protestantische Herkunft doch nicht restlos in den Griff. Ist es also richtig, wenn ich mich an eine Sache verkaufe, hinter der ich nicht voll und ganz stehen kann? (Zum Glück lese ich parallel zu meiner Hotlisttätigkeit ein Buch von Shklar, in dem mir der Fundamentalismus letzterer Frage deutlich vor Augen geführt wird. Dazu aber später und an anderer Stelle mehr.)
Florian Kessler schreibt in der Süddeutschen:
Auch den Preis der „Hotlist“ [der unabhängigen Verlage] haben bisher noch immer Erzählbände oder Romane erhalten. Das Auswahl-Gremium macht die „Hotlist“ damit stärker zur kleinen Schwester des auf Massenerfolg schielenden Deutschen Buchpreises, als unbedingt nötig wäre. Derart eigensinnige Verlagsprojekte wie die Poesieveröffentlichungen der „Edition Korrespondenzen“ oder die Sachbuchreihen von „Orange Press“ finden sich in dieser mittleren Tonlage kaum angemessen repräsentiert.
Hier muss ich Kessler Recht geben, wenn auch nur bedingt. Denn ein prämiertes Buch wie Petrows Manon Lescaut von Turdej hat jede Aufmerksamkeit verdient. Die Konstruktion der Novelle, die Bühne eines Güterwaggons, der durch Kriegslandschaft gerollt wird, scheinbar ziellos, gereicht jedem Realismus zur Ehre. Nur haben wir damit das angesprochene Problem nicht gelöst.
Wobei natürlich grundsätzlich fraglich ist, wie die Welt der kleinen unabhängigen Verlage angemessen zu vertreten wäre. Vielfalt lässt sich kaum ohne Verluste über einen Kamm scheren, die Vermarktung als „Indie“-Projekt ist eben auch nur eine Vermarktung. Bei der „Hotlist“ wie bei jedem Buchpreis geht es um Öffentlichkeit, und jedes Gremium wäre schlecht beraten, dabei ganz und gar zu ignorieren, welche Chancen ein Titel bei den Lesern hat. Auf der Webseite der „Hotlist“ ist in diesem Jahr zu lernen, dass der realistischen Prosa auch bei diesem Wettbewerb am meisten zugetraut wird. ( FLORIAN KESSLER, Süddeutsche Zeitung 22.7.)
Kessler spricht hier unterschwellig etwas Zentrales an, oder er konstruiert es (so ganz sicher bin ich mir nicht, denn es gibt keine wissenschaftlichen empirischen Erhebungen dazu, sondern nur den Unmut des literarischen Feuilletons. Vielleicht sollte der Börsenverein das Frankfurter Institut für Sozialforschung da ansetzen, dabei könnte man dann auch gleich die Verteilung der sozialen Herkunft von Autorinnen und Autoren empirisch feststellen lassen, denn auch in diesem Punkt verlassen wir uns doch sehr auf unser Gefühl)
Wer bestimmt also, was geht? Oder vielmehr: Wie wird, was geht, bestimmt?
Im Grunde sind wir uns dich einig, dass es nicht die Gruppe der Großkritiker ist, die von ihrer Wolke herab literarische Tendenzen festlegt, einfach indem sie sie propagiert. Nein, ich glaube vielmehr, dass auch diese Kollegen an einem wirtschaftlichen Tropf hängen. Auch Konferenzen, wie die Bitterfelder, auf denen der Realismus (in diesem Fall mit dem Vornamen Sozialistisch) als einzig selig machendes Prinzip festgelegt wurde, gehören der Vergangenheit an. Dennoch scheint sich (zumindest in der Prosa) ein Vereinheitlichendes herauszuschälen. Nach der Selbstauflösung der politischen Diktaturen Mittel- und Osteuropas ähnlich dem von Marx formulierten Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, nähert sich die literarische Vielfalt nach dieser Theorie also einem Nullpunkt. Als Beweise gelten die Prosapreise und Listen.
Sich einen Überblick zu verschaffen über die inhaltliche Gesamtproduktion, ist anhand der Gesamtzahlen wahrscheinlich unmöglich. Natürlich kann man Auflagenhöhen einzelner Produkte vergleichen und käme dabei zum Schluss, dass bestimmte Bücher in einer höheren Auflage gedruckt werden als andere. Nur ist eben das keine Erkenntnis, die uns weiterbrächte, denn die Erstellung höherer Auflagen führte doch nur zu größeren Halden und einer Vermehrung der Remittenden.
Ok. wir sind ratlos. Aber nichts hindert uns daran auf unserer Meinung nach außergewöhnliche Publikationen hinzuweisen, solche die den realistischen Rahmen in jeglicher Hinsicht verlassen, die sich also schon in der Produktion als halsbrecherisch herausstellen. Und davon gibt es auch einige auf der Hotlist. Wir werden darauf zu sprechen kommen.
Und jetzt muss ich lesen.
29.07.2014
Gut, dass es Fotografien gibt. Sie ermöglichen einem so eine Art Mikrourlaub von den Texten, ohne dass man den narrativen Raum verlassen muss. (Ach seit Jahr und Tag schiebe ich das Projekt vor mir her, mit Jan Wenzel von Spector Books darüber zu sprechen. Irgendwann wird es vielleicht klappen, wenn ich Zeit habe und Jan auch zufällig in Leipzig ist.)
Jetzt aber Juror sein.
Ich hatte diesen Text geträumt. Wahrscheinlich nicht genau denselben, aber etwas in der Richtung. Heute Morgen jedenfalls, als ich mich gleich nach dem Aufstehen an den Rechner setzte, war er weg, zumindest nicht so leicht zu rekonstruieren, wie ich gedacht hatte. Es soll ja Techniken geben, die einen geträumten Traum verfügbar halten, aber darüber verfüge ich nicht. Zumal meine Träume sonst weitestgehend banal sind: ich träume vom Einkaufen, von der Reinigung der Küche, zuweilen auch von einfachen Spaziergängen durch den nahegelegenen Wald, ganz so, als hätte mein Unbewusstes Angst sich zu verirren, sollte es sich weiter vom Bekannten fortbewegen.
Gestern Abend vor dem Einschlafen hatte ich mir nämlich noch einmal den voluminösen Fotoband Menschen am CERN auf den Schreibtisch gelegt, darin geblättert und auch etwas im Essay von Peter Stamm gelesen, der dem Band beigegeben ist.
Stamms Text ist auf wohltuende Weise nüchtern und gerade diese Nüchternheit unterstreicht den utopischen Raum, der sich für mich durch das Buch eröffnet. Forscher aus vielen Ländern bewegen sich auf recht begrenztem Raum durch einigermaßen heruntergekommene Arbeitsräume, um den letzten Geheimnissen der Physik auf die Spur zu kommen. Die Lösungen sind in unglaublichem Kabelgewirr oder unter Zettellawinen vergraben. Von einigen Wänden grinsen freundlich Piratenflaggen oder merkwürdige Tafelbilderherunter. Als Bildschirmschoner dient, wie soll es auch anders sein, das Universum.
Und es ist eine Utopie, die lange verschüttet lag in meinem Hirn, der ich aber in meiner frühen Lesekarriere schon einmal begegnet bin. Ich begann nämlich mit Sciencefiction Romanen meine exzessive Lektüre.
In der damaligen DDR hießen sie Utopische Romane oder wissenschaftliche Phantastik. Es erlaubte mir für Momente der radikalprotestantischen Stimmung zu entkommen, die dort herrschte und die man für kommunistisch hielt. Und dabei interessierten mich damals vor allem jene, die wie auch immer geartete Zukunftsentwürfe gesellschaftlicher und technischer Art formulierten. Also nicht jene, die wie Star Wars eine märchenhafte Vergangenheitsvorstellung in den Weltraum projizierten und aus Rittern und Knappen rührend intelligente Roboter werden ließen.
Mein Held war natürlich Lem, in seiner grandiosen Mischung aus Vertrauen ins technische Vermögen und Skepsis gegenüber seiner Handhabung.
Die Fotografien des CERN Buches versetzen mich in eben einen solchen utopischen Raum, der auch ein demokratischer ist. Stamms Text entnehme ich, dass am CERN gewissermaßen öffentlich geforscht wird und die Resultate allgemein zugänglich gemacht werden, und zwar nicht nur den geldgebenden Nationen, sondern der (hier sei das schwierige Wort einmal geprobt) Menschheit. Das Hicksteilchen haben die Forscher ja schon gefunden. Ganz sicher weil sie sich kooperativer zeigen, als die verschiedenen von nationalen Interessen geleiteten Gruppen in Lems Roman Die Stimme des Herrn, die letztlich an sich selber scheitern, an ihrer ideologischen Beschränktheit und an einer Struktur, die sie aus dem Universum empfingen.
Menschen am CERN ist ein tröstliches Buch, gerade jetzt, wo es auf Erden an allen Ecken wummert.
27.07.2014
Um Bücher lesen zu können, muss man sie berühren. Und Bücher haben verschiedenerlei Haptik, dem Leinen geschuldet, oder der Pappe, dem festen Einband oder dem Paperback. Im Grunde nehme ich das hin, ohne weiter drüber nachzudenken, zumal ich mich ja in einem Turboleseprozess befinde und eigentlich alles ausblenden müsste, was vom Eigentlichen, dem Text wegführt. Jetzt erinnere ich mich aber an die Taschenbücher meiner Jugend. Woran es auch immer gelegen hat (wahrscheinlich am grundlegenden Mangel in der DDR, der sich auch im Papiermangel zeigte), jedenfalls waren einige davon sehr eng bedruckt, kleine Lettern und kaum ein Rand an den Seiten; und weil es wenig Rand gab, musste man die Bücher sehr weit aufschlagen. Hier zeigte sich dann die Qualität der Bindung. Nicht selten sprangen die Seiten aus ihre Verankerung und man hatte bei der zweiten Lektüre nur noch eine Loseblattsammlung zur Verfügung.
Das Problem wiederholte sich mit dem aufkommenden Digitaldruck. Auch hier hatten einige Verlage das Problem der Bindung unterschätzt. Mittlerweile aber scheint es überwunden, wie auch die DDR und es tut sich eine neue Freiheit der Gestaltung auf.
Außerdem erinnere ich mich an einen Roman von Martin Amis aus den Neunzigerjahren, der Information hieß. Zwei alte und ehemalige Freunde: ein erfolgreicher Autor, der einen Bestseller nach dem anderen raushaut und ein recht kauzig, ängstlicher und zugleich arroganter Kollege, der seit ewiger Zeit an einem Manuskript arbeitet. Irgendwie kam es zwischen den beiden zu verschiedenerlei Verwirrung. Jedenfalls findet sich irgendwann auch ein Verlag für den Kauz. Die Pointe dieser Substory in Amis Roman ist, dass der Text in einem Buch mit außergewöhnlicher Haptik herauskommt, ein Buch, das zu lesen geradezu unmöglich ist, vor allem weil man es nicht berühren mag.
Diese ganze Sache fiel mir also ein, als ich das Handbuch der Ratlosigkeit aus der Versandtasche nahm. Das Buch wurde von Elfriede Czurda, Friederike Kretzen und Suzann-Viola Renninger herausgegeben und ist der Beitrag des Verlages Limmat zum Wettbewerb der Hotlist.
Das Buch hält ohne Umweg ein, was der Titel verspricht: Ich bin vollkommen ratlos, wie ich es beim Lesen in der Hand halten soll.
Der Umschlag besteht aus enorm feinkörnigen Sandpapier. Die Fingerspitzen des Menschen sind überdurchschnittlich empfindlich, meine also auch und sie werden durch die feine Körnung dieses Produktes permanent irritiert. Diese Irritation bleibt auch noch einige Zeit, nachdem man das Buch aus der Hand gelegt hat. Für eine Stunde empfinde ich also ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingerspitzen.
Wenn Literatur also irritieren und verstören soll, dann hat dieses Buch das bei mir erreicht, noch bevor ich auch nur eine halbe Seite darin gelesen habe.
Ich lege das Buch vor mir auf den Tisch und schaffe mir Abhilfe mit einem Stift, den ich zum umblättern benutze. (Zum Glück verrutscht das Buch aufgrund seiner Körnung auch nicht. Mit etwas Druck könnte man damit die Tischplatte für einen neuen Anstrich vorbereiten.) Allerdings verschafft mir auch das noch kein uneingeschränktes Lesevergnügen, denn jeder Lektüreversuch zwingt mich doch immer wieder zur Selbstwahrnehmung. Ich bin einigermaßen ratlos.
Die Liste der Beiträger klingt jedenfalls verlockend: Ingold, Köhler, Cotten, Frey, um nur einige zu nennen, gehören jedenfalls zu meinen literarischen Favoriten. Natürlich auch Elke Erb. Vielleicht werde ich das Buch mit Handschuhen lesen. Das ist bei ca. 30 Grad Außentemperatur allerdings eine komische Vorstellung.
Aber erst einmal werde ich den Sonntag weiter mit einem Roman verbringen, den ich gestern Abend zu lesen begonnen habe und der den Titel Eine Nacht, Markowitz trägt.
Er ist bei Kein & Aber erschienen und das Debüt der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen. Ins Deutsche übertragen wurde er von Ruth Achlama.
Im Zentrum der Handlung, die in der Zeit vor der Israelischen Staatsgründung spielt, steht Markowitz. Ein Mann der von anderen kaum wahrgenommen wird. Spannenderweise verbringt er seine Freizeit mit der Lektüre der Schriften des Zionisten Jabotinsky, dessen Roman Die Fünf mich ziemlich beeindruckt hat. Markowitz wird nach Europa geschickt, um dort eine Scheinehe einzugehen. Mit seiner Frau zurückgekehrt, verweigert er die Scheidung. Das wäre ein Haupthandlungsstrang. Der Text aber verzweigt sich in teilweise urkomische aber auch traurige und bittere Nebenhandlungen, in ein Gewirr jedenfalls, in dem man auf grandiose Weise den Überblick verlieren kann.
Über dieses Buch werde ich in den nächsten Tagen noch zu berichten haben.
26.07.2014
Auch die Nachzügler sind langsam alle hier eingetroffen. Wahrscheinlich tropften sie spärlich aus der Post. Ich war mit meiner Familie ein paar Tage verreist (viel zu wenig, um von Urlaub sprechen zu können), und die Nachbarn hatten bei der Ankunft der Bücher kaum zu schleppen, weniger jedenfalls, als ich befürchtet hatte.
Meine Frau holte heute noch Mia Coutos Das Geständnis der Löwin (Unionsverlag) vom Postamt ab. Ich erinnerte mich beim Auspacken sofort an ein anderes Buch des gleichen Autors, das vor einigen Jahren im Alexander Fest Verlag erschienen war und den Titel Unter dem Frangipanibaum trug. Der neue Text des Autors scheint mir von ähnlicher Struktur wie der alte: Ein Sachverhalt wird auch hier aus verschiedenen Sichten geschildert. Sujet und Sprache haben mich damals fasziniert, der Roman war, soweit ich mich erinnern kann, hervorragend übersetzt. Beim ersten hineinlesen wurde ich massiv an das andere Buch erinnert. Wann ist etwas Stil und wann Masche? Auch dieses Buch ist bei weiterem Lesen ein exotischer Kriminalroman.
Das ist das harte Jurorenbrot, das Gerechtigkeit heißt:
Man beginnt jeden Text in der Hoffnung, die Qual würde irgendwann in Entzücken umschlagen. Einiges habe ich angelesen inzwischen, aber nur Weniges hat mich gefesselt. Komischerweise sind es gerade ältere Texte, die neu-, wieder- oder erstaufgelegt sind, die mich wenigstens ansatzweise begeistern. Warum das so ist, ist mir schleierhaft, zumal ich in den letzten Jahren jede Menge auch aktuelle Texte gelesen habe, die mir ausnehmend gut gefielen. Hier wachsen sie spärlich. Vielleicht ist es ja ein Problem der Vorauswahl.
Und vielleicht ist es ja auch die Härte, die hinter der Gerechtigkeit lauert und uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Es kostet verdammt noch einmal verdammt viel Mühe, gerecht zu sein.
In meinem Fall heißt das, zumindest eine Zeitlang meinen persönlichen Geschmack zurückzustellen oder zu überwinden und mich durch Produktionen zu arbeiten, die ich, wäre ich frei, keinesfalls vor mir aufgetürmt hätte. Und angesichts der Breite des Angebots findet man die eigenen Vorlieben als Resultat radikaler Verengung. Und diese Verengung ist Selbstschutz, einerseits vor Langeweile bei der Lektüre und andererseits vor einem Anspruch, alles zu lesen, was es zu lesen gibt, gleich dem Enzyklopädisten in Sartres Ekel, der sich alphabetisch durch den Bestand einer Bibliothek liest.
Aber der Enzyklopädist scheitert notwendig wie jeder Enzyklopädist, weil er eine unendliche Aufgabe versucht einer endlichen Lösung zuzuführen. Er setzt sich selbst absolut und vergisst, dass in der Zeit in der er liest, geschrieben wird. Zum Glück habe ich nur die Aufgabe aus einem abgegrenzten Konvolut heraus meine fünf Favoriten zu wählen.
Ich war einige Tage an der Ostsee und hatte mir der Rucksack mit Büchern bestückt. Am Strand aber kam ich bei aller Mühe doch kaum zum Lesen. Weiß Gott warum.
Wahrscheinlich, weil die Lektüre zurzeit für mich vor allem Arbeit bedeutet, ist meine Konzentration an mein kleines vollgestopftes Arbeitszimmer in Leipzig gebunden. (Das ist im Übrigen auch der Grund, warum ich mich nicht für Aufenthaltsstipendien bewerbe.)
Wie dem auch sei: drei Bücher habe ich auch in der einen Woche Ostsee geschafft.
(Am letzten Wochenende sind dort übrigens über zwanzig Menschen ertrunken. Vor allem Männer in meinem Alter seien gefährdet, hörte ich im Radio, da sie zur Selbstüberschätzung neigten. Nun gut, ich glaube, da ist etwas dran, auch wenn ich meinen Körper den Wasserwalzen nicht aussetzte, denen einige meiner Geschlechtskollegen auch im flachen Wasser zum Opfer fallen könnten. Die Rettungsschwimmer am Strand jedenfalls hatten alle Hände voll zu tun, und entsprechend weniger lustige Flüche auf den Lippen.)
Eines der Bücher, das ich mit am Strand hatte und dort einen recht guten Job erledigt hat, das heißt mich eine Zeitlang von Gedanken an Ertrinkende und übers Ertrinken und von der Faszination über der Weite des Meeres abgehalten haben, war der Thriller Fette Ernte von Ross Thomas, der im Alexander Verlag erschienen ist. Der Roman war in einer stark gekürzten Ausgabe bereits 1975 (!) auf Deutsch erschienen und handelt in der politischen Klasse der USA. (Wenn man das so sagen kann.) Thomas war wohl einer der Lieblingsautoren von Fauser und Fauser scheint für den Alexander Verlag die Rolle zu spielen, die A. Schmidt eine Zeitlang für Haffmans spielte. Seine Vorlieben sind Programm. Jedenfalls strotzt der Roman vor im deutschen Sprachraum unerreichter Coolness. Macht Spaß! (Wenn ich wieder Zeit habe, werde ich wohl doch einmal etwas von Fauser lesen.)
Und im Zusammenhang mit dem Text des Franzosen Tanguy Viel, der demnächst bei Wagenbach erscheint, werden wir auf amerikanische Romane zurückkommen müssen.
23.07.2014
Und was macht Jan Kuhlbrodt? Er liest.
19.07.2014
Die Frequenz des DHL-Klingelns hat nachgelassen, vielleicht sind ja jetzt alle Bücher eingetroffen. Gut, ich kann noch atmen und etwas Tageslicht dringt auch noch an meinen Arbeitsplatz. Das beruhigt mich ein wenig, zumal ich etwas mit den Nachwirkungen des gestrigen DLL-Sommerfestes zu kämpfen habe. Nicht wegen übermäßigen Alkoholgenusses, den überlasse ich schon seit Jahren den jüngeren Kollegen, aber ein kleines Schlafdefizit habe ich schon und sicher auch eine Überdosis Literatur im Kopf. Man wird halt doch wider Erwarten älter mit der Zeit und auch das kann zuweilen eine gewisse Katerstimmung erzeugen. Aber es hilft nichts. Lesen, lesen!
Allerdings bin ich immer noch dabei, ein System zu entwickeln, dass es mir erlaubt, so viel wie möglich Text in kürzester Zeit aufzunehmen und man will ja auch gerecht sein, nicht nur schnell, und jedem Text entsprechende Aufmerksamkeit widmen. Also ist paralleles Lesen angesagt. Wollen mal sehen, wie lange mein Kopf das mitmacht. Jedenfalls bildet sich darin schon jetzt eine Art innere Hotlistwelt. Bezüge zwischen den Texten stellen sich her, den Sorokinfall hatte ich ja schon angedeutet. Vielleicht kann man von einer literarischen Independentlandschaft sprechen. Auf jeden Fall spielt Landschaft eine Rolle, schon wenn man die Fotos betrachtet, die dem Roman Settlers Creek des Neuseeländers Carl Nixon voran gestellt sind (Weidle Verlag).
Wenn ich mich recht erinnere, stammt aus diesem Verlag der Siegertitel des letzten Jahres, die grandiose Novelle Manon Lescaut von Turdej Wsewolod Petrow.
So ganz ohne Lyrik kommen auch die Hotlistnominierungen nicht aus, das freut mich natürlich, auch wenn sich hier keine ausgesprochenen Gedichtbände finden. (sie fehlen!) Angedeutet fand sich das gestern schon bei der Lektüre des Buches von Lydia Davis. Ich möchte nicht dieses Gedicht lesen: („… und so stand ich/ am Ufer unter Elektrolyten ...“) Zumindest ein Anklang. Zumal die Texte von Davis an mancher Stelle die tradierten Gattungsgrenzen ohnehin verlassen.
Der Aviva Verlag hat einen Band mit Kurztexten von Lili Grün eingereicht. Mädchenhimmel! Im ersten Teil des Buches finden sich Grüns Gedichte. Geschrieben in den späten zwanziger Jahren. Texte, denen man die Nähe zu Tucholsky und Keun anmerkt. Und diese Referenz ist für mich ein Lob, denn die Ansätze von Feminismus und Sozialthematik wurden doch in den dreißiger Jahren sehr gründlich aus der Literatur des deutschen Reiches eliminiert. Ihre Protagonisten wurden vertrieben oder ermordet.
Lili Grün wurde 1904 in Wien geboren. Sie verlor früh beide Eltern. In den Zwanzigerjahren ging sie nach Berlin und arbeitete in der Kabarettszene um Ernst Busch und Hanns Eisler. Es handelte sich um linke politische Kunst, die da praktiziert wurde.
1933 debütierte Grün mit einem Roman Herz über Bord, der unter dem Titel Alles ist Jazz ebenfalls vom Avira Verlag wieder aufgelegt wurde. Ich habe das Buch nicht gelesen, aber nach der Lektüre von einigen kurzen Prosatexten aus Mädchenhimmel! reizt es mich doch sehr, mir das Buch zu bestellen. (Wo soll das alles nur noch hinführen, es ist derzeit zwar länger hell, aber dennoch hat der Tag nur 24 Stunden.)
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ging Grün nach Wien zurück. Eine Lungenkrankheit verunmöglichte ihr die Flucht nach dem Anschluss Österreichs. Am 27. Mai 1942 wurde sie aus Wien deportiert und sofort nach ihrer Ankunft am 1. Juni 1942 im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.
Es ist mir schon länger ein Anliegen, durch den Nationalsozialismus verschüttete oder in der Emigration verlorene Traditionslinien neu zu entdecken. Die Gedichte Grüns enthalten eine poetische Leichtigkeit, gepaart mit politischem Engagement, wie ich sie sich zum Beispiel auch eben bei Tucholsky, oder etwas weiter davon entfernt bei Hans Sahl findet.
Das Durchgehen durch die Nominierungen verspricht also eine Entdeckungsreise in vielerlei Hinsicht zu werden. Ich hoffe, mir geht unterwegs die Luft nicht aus. Den Gedanken, der mir für einen kurzen Moment kam, nämlich die Seitenzahlen der Bücher zu addieren, habe ich schnell verdrängt und mich an eine Losung der Pariser Studenten von 1968 erinnert: Seid Realisten, fordert das Unmögliche!
17.07.2014
Ich hoffe die Buchzustellung hat heute den Zenit überschritten. Ich traue mich nicht zu zählen, betrachte das Häuflein Erdöl in Form von Klarsichtfolie neben meinem Tisch und beschließe, mich heute einmal nicht darüber zu ärgern.
Stattdessen blättere ich in den Druckerzeugnissen, die unter den Schutzfolien waren, teste sie an, wie man vielleicht sagen würde, wenn es sich um technische Geräte handelte.
Und Buff begegnet mir eine Überlegung des gestrigen Tages wieder. Im irre dicken Buch Seltsame Schleife von Rolf Niedernhauser (Rotpunktverlag) wird Sorokin zitiert. Auf Russisch steht da: Der Roman ist gestorben. (So viel gibt mein Schulrussisch noch her.) Als Beweis für den Tod der Gattung ein 750 Seiten Grabstein. Eine lange Totenfeier samt Auferstehung.
Derart Paradoxien gefallen mir, zumindest in der Anlage. Was das Buch bringt, muss man sehen. 750 Seiten sind auch erst einmal zu bewältigen! Vielleicht geht die Lektüre ja schneller, weil man nur jede zweite Seite liest, zuerst von vorn nach hinten und dann von hinten nach vorn.
Ach und der zweite Teil heißt Die Rückkehr. Klingt auch schon programmatisch und wird mit einem Zitat aus Wilhelm Meisters Lehrjahre eingeleitet. Auf Spanisch das Zitat, in der Fußnote steht das Original. Ich bin sehr gespannt, ob der Text diese Originalitätsandeutung einlösen wird.
Früher hätte ich mich über eine solche Anlage diebisch gefreut – wo kommt heute meine Skepsis her?
Der Sachbuchanteil in den Einsendungen ist gering. Gestern Abend aber erholte ich mich von der Lektüre, oder viel mehr von den Lektürefetzen, die ich mir zugestanden hatte, mit Hilfe des opulenten Fotobandes von Andre Pohl Menschen am CERN (Lars Müller Publishers). Und es machte mir wirklich Spass, Wissenschaftler, deren Treiben ich nur in Ansätzen verstehe, in ihren physikalischen Räuberhöhlen zu betrachten. Sie bewegen sich am CERN auf einem Abstraktionsgrad, der mir die Piratenflaggen, die zuweilen die Arbeitsräume der Forscher schmücken, nur zu verständlich macht. Zwischen all dem Kabelgewirr ein Essay von Peter Stamm, der das Buch begleitet, habe ich mir erst einmal aufgehoben.
Je näher ich mich an die Bücher heran bewege und mich mit einzelnen beschäftige, umso schwieriger scheint es mir, eine wertende Reihenfolge festzulegen. Zumal meine Erwartungshaltungen permanent unterlaufen werden. Andernfalls aber, wäre diese Tätigkeit auch nicht auszuhalten! Vielleicht ist das ja auch die einzige Aufgabe, die die Literatur und die Kunst überhaupt hat, die Erwartungshaltung des Rezipienten zu unterlaufen.
Man muss sich bei der Lektüremenge Gegengewichte bauen. Und so werde ich versuchen die Seltsame Schlaufe, den fetten Klopper, soweit ich komme, parallel zu Lydia Davis' Kanns nicht und wills nicht lesen. Vielleicht geht diese Strategie ja auf. Droschl präsentiert in diesem Buch Short Stories und Prosaminiaturen der Amerikanerin in der Übersetzung von Klaus Hoffer. Das Komprimierte und das Ausladende, zwei sich widerstrebende Tendenzen der Prosa, aber eben gerade deshalb verschwistert. Die Titelgeschichte von Davis zum Beispiel ist nur eine Seite lang und ließe sich in Gänze hier wiedergeben. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um die kürzeste.
16.07.2014
Seit vorgestern klingeln mehrfach am Tag die Paketzusteller und auch die Briefpost, die sich sonst nur durch das Klappern der Kästen bemerkbar macht, kann ihre Sendungen nicht mehr in den Briefschlitz stecken und muss läuten. Zwischen Elf und Zwei sollte ich mir derzeit also nichts vornehmen, was größere Konzentration verlangt.
Aber irgendwie hab ich mir aus meiner Kindheit das Gefühl der gespannten Freude erhalten. Ich packe gerne Pakete aus, auch wenn mich der Inhalt nicht wirklich überrascht. Kommentar meiner Mutter von früher: Schon wieder ein Buch.
Zügig bilden sich Stapel in meiner 12 m² Arbeitskemenate: neue Stapel, neben den ohnehin schon vorhandenen. Lesen und umstapeln ist meine Arbeit in den nächsten vier Wochen. Viel lesen, mehr als damals, als ich Soldat war und es auf zwei bis drei Bücher die Woche brachte. Drei in der Woche werden diesmal nicht reichen.
Es war ein Vorratslesen damals, von dem ich Jahre lang zehren konnte. Einen Vorrat braucht es jetzt nicht mehr. Ich setze an. Wissen und Lektüren. Dickköpfiger Literaturspezialist, in der Art meines Onkels, der zugleich Radio hörte und las. Gut, das Leben ist kurz. Verschiedenfarbige Markierungen am Rand der Publikationen. Das schenke ich mir und versuche das Problem mit Papier zu lösen. Schnipsel von Kopierpapier mit und ohne Notizen. Hin und wieder entwerfe ich auch einen Post auf Facebook, wie zum Zeichen dafür, dass da Leben ist, zwischen all den Druckerzeugnissen. Und weil auf der Hotlist der unabhängigen Verlage kein einziger Lyrikband vertreten ist, muss ich neben den Hotlisttiteln noch anderes Lesen. Zur Grundversorgung sozusagen.
Meine Aufgabe besteht also zunächst darin, aus Dreißig Büchern fünf auszuwählen, die mir am besten gefallen. Nun ist aber bloßes Gefallen keine Kategorie, die sonderlich viel aussagt. Schwierig vielmehr ist es, das Gefallen zu begründen Irgendwie muss ich mich zwischen den Texten bewegen, muss nach Momenten suchen, die mich darüber hinaus überraschen.
Da haben es Bücher erst einmal leichter, die mit der Form spielen, die ihrer Prosa (bei den allermeisten Büchern hier handelt es sich um Prosawerke) etwas zusetzen.
Unter anderen zwei Referenzen bei klassischen Romanen des späten zwanzigsten Jahrhunderts, soweit ist mir das aufgefallen (ich bin kein Literaturwissenschaftler). Vielleicht notwendiger Ausgang. Parodie zur Überwindung. Natürlich verbunden das Abkippen ins Schreckliche. Zeitgenössische Referenzen:
1. Roman von Sorokin
2. Der Trost von Fremden von Mc Ewan
Ok. Es ist einige Zeit her, dass ich diese Romane gelesen habe. Es muss so um die Jahrtausendwende gewesen sein, und man könnte die Titel vielleicht auch ersetzen, aber ich betrachte sie paradigmatisch. Ähnlich der frisch geschlüpften Ente, die das bewegliche Objekt, das sie zuerst sieht, fortan als Mutter betrachtet. Und für diese Art Literatur waren es für mich eben Sorokin und Mc Ewan. Ich könnte noch andere Bücher dieser Autoren nennen, aus den Achtzigerjahren. Der Zementgarten vielleicht oder Marinas dreißigste Liebe. Einschneidende Leseerfahrungen für mich und tolle Erinnerungen.
Es scheint mir in der Logik dieser Romane im zwanzigsten Jahrhundert zu liegen, dass sich das Schreckliche seinen Weg sucht aus dem Genre in die Hochliteratur. Stoffe vom Poe, Stoker und Shelley-Wollstonecraft, Spuren gelegt im neunzehnten Jahrhundert, verlassen sie die randständigen Sujets. Insofern, so scheint es, hat die Literaturgeschichte doch so etwas wie eine innere Logik. Formen werden parodiert und dann werden sie überwunden. (Darauf werden wir, wie es scheint im Zusammenhang mit Tangui Viel und dessen Roman Das Verschwinden des Jim Sullivan zurückkommen müssen, den der Wagenbach Verlag ins Rennen schickt.)
Pointen verhageln mir zuweilen den Spass. Dennoch sind sie auch folgerichtig. Das Vergnügen kippt in den Schrecken in der Passage bei Beile Ratut. Einer Autorin von der ich vorher nie etwas gehört habe. Ihr Buch Das schwarze Buch der Gier ist im Ruhland Verlag erschienen. Auch den Verlag kannte ich bislang noch nicht. Ich hatte das Buch irgendwo aufgeschlagen und las das Kapitel Ein alter roter Mercedes. Wohlgesetzte Prosa. Eine ruhige Stimmung, die sich im Verlauf als aufkommendes Grauen erweist.
Eher aus den Augenwinkeln hab ich die Blüte der Graphic Novel in den letzten Jahren beobachtet, immer wieder aber war ich überrascht vom Sog, der graphischen und narrativen Qualität dieser Bücher, außerdem vom betörenden Geruch der Druckfarben, wenn man auspackt. Hier nun eines, dass mich in meiner späten Jugend abholt. Mawil Kinderland, erschienen im Reprodukt Verlag. Kinderland erzählt eine Schülergeschichte aus der Spätzeit der DDR. Grandios finde ich die Bilder ohne Handlung, die Atmosphärisches schildern. Stadtlandschaften. Fast leere Straßen. Plattenbauten. Auch die Differenz zwischen verordneter Ideologie und Schlägern im FDJ Hemd. Auf dem Arm das Symbol der untergehenden Sonne.
Es steht noch einiges ins Haus.
Die 30 Kandidaten für die HOTLIST 2014
(alphabetisch nach Verlag)
1. Alexander Verlag:
Ross Thomas: Fette Ernte, Roman, ISBN: 978-3-89581-317-7
2. Arco Verlag:
James Hanley: Fearon, Roman, ISBN: 978-3-938375-60-0
3. August Dreesbach Verlag:
Pochmann / Andreas / Palmer: Fallen, Erzählungen, ISBN 978-3-944334-27-1
4. AvivA Verlag:
Lili Grün: Mädchenhimmel!, Gedichte und Geschichten, ISBN 978-3-932338-58-8
5. binooki:
Emrah Serbes: junge verlierer, Erzählungen, ISBN: 978-3-3943562323
6. Ch. Links Verlag:
Friederike Gräff: Warten, Erkundungen eines ungeliebten Zustands, ISBN: 978-3-86153-763-2
7. Droschl:
Lydia Davis: Kanns nicht und wills nicht, Erzählungen, ISBN: 978-3-854209553
8. Edition Atelier:
Ulrike Schmitzer: Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt, Roman, ISBN: 978-3-902498-87-8
9. edition fünf:
8 finnische Autorinnen: Alles absolut bestens bei mir, Anthologie, ISBN 978-3-942374-44-6
10. Eichenspinner Verlag:
Günter Saalmann: Fiedlerin auf dem Dach, Roman, ISBN: 978-3-939927-08-2
11. Folio Verlag:
Piersandro Pallavicini: Ausfahrt Nizza, Roman, ISBN: 978-3-85256-641-2
12. Frankfurter Verlagsanstalt:
Jean-Philippe Toussaint: Nackt, Roman, ISBN: 978-3-627-00202-2
13. Jung und Jung:
Tessa Müller: Etwas, dass mich glücklich macht, Stories, ISBN: 978-3-99027-056-1
14. Kein & Aber:
Ayelet Gunda-Goshen: Eine Nacht, Markowitz, Roman, ISBN: 978-3-0369-5681-7
15. Krug & Schadenberg:
Emma Donoghue: Zarte Landung, Roman, ISBN: 978-3-930041-90-9
16. Lars Müller Publishers:
Andri Pol: Menschen am CERN, Reportage-Bildband, ISBN: 978-3-03778-262-0
17. Limmat Verlag:
Czurda / Kretzen / Renninger: Handbuch der Ratlosigkeit, ISBN: 978-3-85791-736-3
18. mairisch Verlag:
Florian Wacker: Albuquerque, Erzählungen, ISBN: 978-3-938539-32-3
19. Matthes & Seitz:
Maruan Paschen: Kai. Eine Internatsgeschichte, Roman, ISBN: 978-3-95757-111-3
20. Mitteldeutscher Verlag:
Christopher Ecker: Die letzte Kränkung, Roman, ISBN: 978-3-95462-240-5
21. Otto Müller Verlag:
Karin Peschka: Watschenmann, Roman, ISBN: 978-3-7013-1220-7
22. Reprodukt:
Mawil: Kinderland, Graphic Novel, ISBN: 978-3-943143-90-4
23. Rogner & Bernhard:
Julia Korbik: Stand up, Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene, ISBN: 978-3-95403-044-6
24. Rotpunktverlag:
Rolf Niederhauser: Seltsame Schleife, Roman, ISBN: 978-3-85869-584-0
25. Ruhland Verlag:
Beile Ratut: Das schwarze Buch der Gier, Roman, ISBN: 978-3-88509-102-8
26. Unionsverlag:
Mia Couto: Das Geständnis der Löwin, Roman, ISBN: 978-3-293-00476-4
27. Verbrecher Verlag:
Sarah Schmidt: Eine Tonne für Frau Scholz, Roman, ISBN: 978-3-943167-78-8
28. Verlag die brotsuppe:
Marie-Luise Könneker: Asseblick, Gedichte u. a., ISBN: 978-3-905689-50-1
29. Wagenbach:
Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan, Roman, ISBN: 978-3-8031-3264-2
30. Weidle Verlag:
Carl Nixon: Settlers Creek, Roman, ISBN: 978-3-938803-60-8
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