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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Versuch der Sichtbarmachung

Über die öffentliche Trauer und die Gefahr der Bevormundung und Diskriminierung
Hamburg

Wie lässt sich Terror verhandeln? Mit welcher Sprache nähert man sich den Angehörigen, und wie spricht man nicht für oder über sie, sondern von den Getöteten und deren Familien? Wie erinnert man sich Ermordeten, ohne sie auf ihren Tod zu reduzieren, ohne stets den/die TäterIn von neuem heraufzubeschwören? Wie entgeht man der Gefahr, diese Menschen ein weiteres Mal zu Opfern zu machen, ihnen ein weiteres Mal die Stimme zu entziehen, sie erneut zu marginalisieren, sie zu Fußnoten werden zu lassen in der medialen Wahrnehmung, die die Tat reproduziert, indem sie ihnen keinen Platz zugesteht?

Als drei Jahre nach den Anschlägen in Norwegen ein Entwurf für ein Mahnmal für die Opfer Breiviks vorgelegt wurde, der die psychische Wunde, die der Massenmord auf Utøya hinterließ, als symbolische Wunde auch in der Landschaft sichtbar machen würde, regte sich Widerstand in der Bevölkerung und bei manchen der Hinterbliebenen. Der Entwurf sieht vor, eine dreieinhalb Meter weite Schneise in die Halbinsel Sørbråten zu schlagen; auf der einen Seite eine Marmortafel mit den Namen der Getöteten und auf der anderen Seite eine Besuchergalerie. Die Angehörigen aber waren kaum in die Auswahl des Entwurfes eingebunden, und die Mutter des mit 14 Jahren jüngsten Opfers sagte: »Es ist arrogant, die Namen der Kinder zu benutzen, ohne uns zu fragen. Obwohl sie tot sind, sind sie noch immer unsere Kinder.«1 Der gutgemeinte Akt, die Erinnerung an diese unfassbare Tat, vor allen Dingen aber an die Ermordeten, durch diese Gedenkstätte aufrechtzuerhalten, führte symbolisch dazu, dass den Eltern ein weiteres Mal ihre Kinder entrissen, dass die am 22. Juli 2011 Getöteten auf Breiviks Tat reduziert wurden.

Während in Norwegen jedoch zumindest von Anfang an klar aufgezeigt werden konnte, wer Täter, wer Opfer der Anschläge war (und das Gerichtsverfahren gegen den Massenmörder vorbehaltlos und zügig durchgeführt wurde), ist es den Familien der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) seit Bekanntwerden der Hintergründe der Serienmorde überhaupt erst möglich, die Rollen klar zu benennen und die Getöteten in gebührendem Maße zu betrauern. Zuvor wurden die Morde an den Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund vorwiegend auf eine vermeintliche Verstrickung in kriminelle Aktivitäten innerhalb der türkischen Gemeinschaft in Deutschland zurückgeführt. Den Opfern wurde dadurch regelrecht ihre Unschuld an ihrem eigenen Tod abgesprochen, und in gewisser Weise wurde so das rassistische Motiv der Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat weitergetragen, indem sie von Seiten der Polizei und der Medien auf ihre Herkunft beschränkt 2

und ihre Familien selbst zu Verdächtigen gemacht wurden. Selbst während des – immer noch stattfindenden – Prozess’ gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer des NSU räumten die damals ermittelnden Beamten kaum je den Fehler ein, sie hätten rechtsextreme Motive während ihrer Untersuchungen außer Acht gelassen. Und ohne die Ermordeten zu rehabilitieren, richtete sich das Augenmerk der Berichterstattung vorrangig auf die Täter.

In ihrem neuen Buch Blumen für Otello – Über die Verbrechen von Jena nimmt sich Esther Dischereit dieser Thematik an, um »die Betroffenen und Getöteten sichtbar werden [zu] lassen«. Regelmäßig hat sie dafür in den Jahren 2012/2013 im NSU-Untersuchungsausschuss gesessen, hat versucht, die Seite der Opfer zu begreifen und schließlich ein Opernlibretto geschrieben, um der medialen Dominanz der »Killer« etwas entgegenzusetzen. In dem mit Materialanhang und türkischer Übersetzung von Saliha Yeniyol aufwendig gestalteten Buch (erschienen bei Secession) erzählt sie von »deutschen Zuständen nach 1989«, von dem Verlust von Akten zu den Verbrechen, von Alltagsrassismus und lässt den Blumenhändler Enver Şimşek, der am 9. September 2000 niedergeschossen wurde und zwei Tage später im Krankenhaus verstarb, in der Unterwelt auf den »ehemalige[n] Sklave[n], [] >Mohr< und Warlord«, Otello treffen. Otello, dem Dischereit möglicherweise als Zeichen des Verlusts den Buchstaben h vorenthält (was – ich mag überinterpretieren – ihm einen sprechenden Namen verleihen und anzeigen soll, dass es an ihm ist, zu sprechen), und Enver vermischen in ihren Dialogen poetisierte und Alltagssprache, greifen gegenwärtige Entwicklungen der Kriegstechnologie auf und reden über die Problematik des Fremd- und Andersseins:

____ Enver
Was ist daran so schwer zu verstehen?
Schwarz ist deines Mannes Haut und sein Herz voll
Tugend, sodass es weiß wird oder golden, sodass
es glänzt, als wär es gar nicht weiß; so weißeln Sie
sich, mein Herr, was gibt es zu verstehen?

 

Otello ____
Wollen Sie damit sagen, dass Sie von schwarzer Haut
sind und edler Größe und Blumen kauften
und verkauften, daran die Welt sich freute?

Dem Libretto stellt Dischereit eine Sammlung von Klage- und Gebetsliedern voran, denen jegliches Erhabene, jegliches Verherrlichende fehlt. Nicht Helden sollen damit besungen und betrauert, kein transzendentes Moment mehr gepriesen werden, sondern Menschen, die ihrem Alltag entrissen wurden, deren Abwesenheit allgegenwärtig ist, die zu keinem Fußballspiel mehr mitkommen, die nicht mehr im Laden stehen und Brot verkaufen, denen man manchmal auch den Tod gewünscht hat, den man nun nicht einsehen will. Immer wieder brechen die Sätze dabei ab, setzen unvermittelt neu an, um der Trauer und Wut Ausdruck zu verleihen, und gerade an diesen Stellen gelingt es Esther Dischereit, das Ringen nach Worten als Versuch darzustellen, die Sprachlosigkeit, die durch den Mord und durch die Ermittlungen aufgezwungen wurden, zu überwinden, den Opfern und ihren Familien einen Platz einzuräumen, an dem sie (sichtbar) sein könnten und von dem aus es ihnen möglich wäre, zu sprechen.

So gelungen diese Lieder als literarische Arbeit auch sein mögen, gestaltet sich doch die Tatsache, dass keines davon autorisiert ist, dass sie, ohne dass die Autorin mit den Hinterbliebenen gesprochen hat, entstanden, als problematisch. Dischereits Versuch, die Fassungs- und Sprachlosigkeit nach dem Bekanntwerden der Mordserie und während des Prozess’ in einem künstlerischen Werk einzufangen, gelingt ihr insofern nur, wenn man Blumen für Otello als fiktionalen Text mit dokumentarischen Anleihen liest, der einer »öffentlichen Trauer Ausdruck geben« möchte. Gleichzeitig läuft Blumen für Otello mitunter – gerade aufgrund der oben erwähnten Problematik – Gefahr, nicht von oder über die Personen, um die es geht, zu sprechen, sondern für sie (an Stelle von), was ihnen zwar vorgeblich eine Stimme verleiht, jedoch nicht unbedingt die eigene.

  • 1. http://www.spiegel.de/panorama/utoya-streit-ueber-geplantes-mahnmal-fuer...
  • 2.

    vgl. hierzu eine Pressemitteilung der Gesellschaft für deutsche Sprache zu den Begriffen „Döner-Morde“ und „Mordserie Bosporus“: »Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechts-terroristischen Mordserie würden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden […]. Der Ausdruck stehe prototypisch dafür, dass die politische Dimension der Mordserie jahrelang verkannt oder willentlich ignoriert wurde.«

Esther Dischereit
Blumen für Otello
Über die Verbrechen von Jena
Mit einem Interview von Insa Wilke Gebunden ohne Schutzumschlag In deutscher und türkischer Sprache Übersetzung aus dem Deutschen ins Türkische: Saliha Yeniyo
Secession
2014 · 216 Seiten · 29,95 Euro
ISBN:
978-3-905951-28-8

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