Lichtwechselndes Leben
Wir hoben scherben in das licht/ durch die bässe hindurch/ eine dieser neonnächte/ in tokio vielleicht…
Was ist das für ein Ton, Stil, Inhalt? Schnell mal einordnen, flüstert der sich kundig glaubende Rezensent und macht die Schubladen auf…
Manche Gedichte, auch heute noch, kommen daher wie auf einem venezianischen Kostümball: überreich an Farben, Stoffen und Klimbim, großflächig parfümiert, zuweilen sehr kunstvoll, meist aber überladen mit so viel Plunder, Schminke und Maskerade, dass kein Gesicht dahinter zu entdecken ist. Im dichten Wald solcher Metaphern verenden Jäger und Wild, und der Leser robbt erschöpft ins freie Feld. Andere Poeme, selbst heute noch, wollen immer noch munter drauflos rilken oder hölderlinen, ohne freilich das Handwerkszeug dafür zu haben (und bekanntlich schrieb selbst der geniale Rilke in seiner Reimobsession so manches wirre Zeugs). Hebt sich der Vorhang der Form, ist die Bühne leer. Kein Inhalt, ein reines Vakuum.
Und schließlich das dritte Extrem heutiger Lyrik: die blanke Wand mit kleinen Graffiti oder Kritzeleien drauf. Alles ist bis aufs Äußerste reduziert, kein Reim, keine Zeichensetzung, die Buchstaben kleingeschrieben, die Verse so schlicht und unmelodiös, dass man sie auch gut und gerne auflösen und zu einer Kurzprosa fügen könnte. Waschzettel-Gedichte, Taschentuch-Lyrik, sachliche Momentaufnahmen, weitgehend bildarm, vielleicht, allerhöchstens, eine kleine Pointe am Ende. Oft recht kalte Lyrik. Bloß nicht übertreiben, cool wirken, ein neuer und irgendwie netterer Charles Bukowski oder Rolf Dieter Brinkmann sein, was aber erstens nicht geht und zweitens nur die eigene Harmlosigkeit zu verschleiern sucht.
Die ersten zwei Extreme stellen oftmals die Mehrheit der Einsendungen bei Lyrikwettbewerben, die in Deutschland als Ersatz dafür herhalten müssen, dass Lyrik hier zwar am laufenden Band produziert, aber – sicher auch traumatischen Deutschschulstunden sei Dank – nicht gelesen wird. Das dritte und letzte Extrem schließlich gewinnt die Preise. Es ist den Juroren am wenigsten peinlich und wirkt zudem, nota bene, modern, jung und innovativ. Außerdem: Was nicht anrührt und kalt lässt, juckt auch niemanden, kann also ohne jeden Protest aufs Treppchen steigen. Dem Leser ist’s ohnehin gleich, wenn ihm die Germanisten im Feuilleton zuträllern: „Du magst das für leicht halten, in Wahrheit aber ist es große Kunst!“ Er zuckt mit den Schultern – und blättert weiter zum Sport.
Auf den ersten Blick gehört Christoph Dannes Lyrik dieser letzten Kategorie an. Die Gedichte des 1976 in Bonn geborenen Wahlkölner Dichters, Buchhändlers und Verlegers sind entkleidet, bis aufs Äußerste reduziert, meist eine halbe Seite lang, die Schrift schreibt sich klein, nur die Titel strotzen in großen Lettern. Selbst das Layout seines neuen Gedichtbandes „das halten der asche“, unlängst in der Kölner parasitenpresse in der verlagseigenen Lyrikreihe als Band 030 erschienen, ist so: ein mit zwei Klammern zusammengetackertes, 14seitiges Faltheftchen aus Altpapier, das so wirkt, als hätte es eine marxistische Studentengruppe noch am Abend zuvor rasch auf der Druckerpresse verfertigt. Bloß nicht übertreiben, minimalistisch sein, sich klein machen (um dann umso größer zu wirken): So tritt die ganze Reihe auf und ganz besonders dieser Band. Dies also enthüllt der erste, oberflächliche Blick.
Doch wer genauer hinschaut, merkt schnell: Dannes Formate passen nicht in die Schubladen hinein, sie widersetzen sich der Einordnung. Hinter seinem Minimalismus steckt weit mehr. Der Autor hält fast immer ein leises Bild in der nur leicht geöffneten Hand, reicht es herum und zeigt es in neuem, anderen, vor allem: überraschenden Licht. der schattenwurf einer mauer/ in der medina von tunis/ ein mann röstet irgendwas/ wie sein vater schon, heißt es im Titelgedicht „Das Halten der Asche“. Das immergleiche Ritual wird hier durchgespielt, der Schatten der Tradition liegt groß auf den alten Steinen der alten Stadt, um dort zu verweilen. Aber das unbestimmte irgendwas tastet sich heran, wird deutlicher. pistazien oder mandeln werden da geröstet auf offener glut, und wer schon einmal durch die Altstadt von Tunis, Damaskus oder, auch, Jerusalem geschlendert ist, der weiß, welche anderen Düfte einem da in die Nase steigen, in die Tasche greifen, einen so verfolgen, dass man sie mitnehmen möchte in den Alltag daheim.
Aber etwas ist anders, etwas hat sich eingeschlichen in die schläfrige Schönheit der Wiederholung: und sein sohn/ mit bärtchenflaum und/ im trikot von real madrid/ betrachtet seine staubhände/ beim halten der asche. Die Zeit steht still für einen Moment, das Weiterleben der Tradition in Gestalt des Jungen, der zum Mann heranwächst, wird und kann nicht mehr dasselbe sein. Asche, aus der Glut in die Luft gewirbelt, lässt sich ebenso wenig aufhalten, wie man den Wechsel der Zeiten anhalten kann. Wer weiß schon, ob die Tradition nicht stirbt? – Es liegt eine besondere Schönheit und auch Traurigkeit in diesen letzten zwei Verszeilen, die keine Attitüde und keine Maske mehr braucht.
Die ganz am Anfang zitierten scherben, die in das licht geschoben werden, und zwar durch die bässe hindurch, sind wiederum Teil eines Licht- und Klangkörpers, der brüchig und verletzbar erscheint. Brüchig ist auch die Vermutung eine dieser neonnächte/ in tokio vielleicht, weil sie sich als mediales Ersatzerlebnis entlarvt: das wir nur aus dem fernsehen kannten. Aber wieder ist auch in diesem Gedicht „Die Fremde und das Licht“ etwas geschehen, ein wahres Erlebnis, das, leise und unaufdringlich, einen Wendepunkt markiert. Was ist es? Eine gefühlte Nähe, welche die Fremdheit aufzubrechen beginnt? Es wird nicht klar, wer sich am nächsten Morgen in einer fremden küche nackt wiederfindet, um ingwer in scheiben zu schneiden. Die Fremde in der Küche eines Fremden – des Sprechers – oder umgekehrt? Klar ist nur: Es ist etwas geschehen jenseits des Gewohnten, ein Lichtwechsel im Leben. Man mag es, wie das wir in dem Gedicht, auf die leuchtröhren (in der Konzerthalle? Schließlich war von bässen die Rede) schieben wollen. Dies aber ist letztlich nur ein trivialer Erklärungsversuch für die Gefahr und die Schärfe, die immer dann aufscheint, wenn Gefühle zwischen zwei Menschen mit ins Spiel kommen: das messer blitzt/ in der hochstehenden sonne. Denn dieses, wie es in einem anderen Gedicht heißt, fallenlassen ins/ licht vor den augen des anderen ist immer auch ein Wagnis. Etwas, das schief gehen kann, weil es ein wenig zu viel verspricht. Das aber auch gut gehen kann (vielleicht ja hat Danne gerade deshalb für die literarische Lesereihe, die er seit 2010 organisiert, den Titel gegenlichtlesen gefunden).
Oft sind es Tiere, die in Dannes Lyrik als Zeugen oder Begleiter der stillen Wandlungen des Textsubjekts oder der Textsubjekte auftreten. So in „Quartier in Anxi“, wo draußen die hunde anschlagen, als witterten sie/ die fremde erde/ unter unseren schuhen, oder die übers rheinland ziehenden kraniche in „Der Himmel über Tunis“. Oder schließlich, vielleicht am deutlichsten, in dem Oxymoron-Bild in „Bonn am Alten Friedhof“, wo ein rabe/ im schwarzen schnee, vom Zigarette rauchenden Erzähler beobachtet, in richtung eingangstor sich schleicht. In diesem Gedicht ist auch die Attitüde wieder da, die manchen vielleicht nervende Coolness des Erzählens, das „Ich-schreib-was-aber-mach-kein-großes-Aufhebens-drum“, wenn man seine kippe in den rinnsteinmatsch lässig schnippt. Eine Attitüde, die sich beim zweiten Hinschauen freilich selbst wieder als Spiel entlarvt, schon im formstrengen Binnenreim: ich schnippe eine kippe. Der stumme Zeuge weiß auch nicht/ wohin, er ist genauso ratlos wie der Sprecher selbst. Das eingangstor, auf das der Rabe zuschleicht, als suchte er einen Ausgang ins Schöne, scheint mehr an Welt zu versprechen, als es halten kann: so als/ gäbe es dort was.
Es sind viele solcher Verse, die dem Hoffen auf einen Wandel, der in fast allen Gedichten Dannes genauso aufblitzt wie das Messer in „Die Fremde und das Licht“, einen negativen, zuweilen ironisch-nüchternen, meist aber melancholischen Haltepunkt geben, beispielsweise in „Provinzmorgen viertel vor Acht“, wenn die gedanken eben fremd bleiben, die tore vor allem kahl sind, der bolzplatz winterlich vereist, das supermarktgelände großflächig eingezäunt. Und nirgendwo ist es je/ anders und nie, heißt es da am Ende. Oder in „Rheinabwärts“, einem Gedicht über den irrsinn der Vorstädte, in denen asthmatische pinscher ausgeführt werden auf den bürgersteigen. Ein Kaleidoskop der Fensterschau ist hier eröffnet, das Textsubjekt beobachtet, wohl aus dem fahrenden Zug, den kraftwerkregen aus/ den himmeln der vorstädte. Und all diese Bilder des Widerspruchs münden in die Schlussfolgerung des haltenden Zuges auf offener strecke weil/ eine tür nicht schließen will – sich genauso wenig schließen kann wie der Gedanke, die Erinnerung, das Festhalten an bessere Zeiten von gestern, heute, irgendwann.
Es mag pathetisch klingen, aber es sind durchaus die großen Themen, die in Dannes Gedichten leicht, aber keineswegs oberflächlich behandelt werden. Themen wie Erinnerung, Hoffnung, Liebe. Darum lohnt es sich, seine Verse zu lesen und ihnen einen zweiten, dritten und vierten Blick zu schenken. Seine Bilder der Erinnerung und der Hoffnung auf einen Wandel ins Bessere sind in Bewegung und sind auch bewegend: dinge zurückgelassen in der bewegung/ manche bleiben/ manche nicht. Man könnte es über Christoph Dannes Worte selbst sagen, über ihre Wirkung beim Lesen. Manche bleiben, manche nicht. Fast immer aber wehren sich seine Verse gegen den flüchtigen Gebrauchswert und gegen die Maskerade lauter Metaphern. Sie malen weiße Farben in den Schnee und flüstern hinter vorgehaltener Hand: „Okay“, sagen sie, „wir sind … Lyrik.“ Dann gehen seine Worte fort. So leise, wie sie gekommen sind.
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