Bleibende Lücken
Diese kurze Buch mit knapp einhundertfünfzig Seiten, von denen einige mit Fotografien bedruckt waren, las ich, entgegen meiner Gewohnheit, sehr langsam. Ich habe mehr als einen Monat dafür gebraucht. Zum einen lag es daran, dass es mir des Themas wegen angemessen schien, zum anderen musste ich die Lektüre auch immer wieder unterbrechen, weil ich von Trauer ergriffen wurde. Das kommt selten vor, dass ein Buch mich derart mitnimmt. Und um keine Missverständnis aufkommen zu lassen, die Sprache des Textes ist eher nüchtern, bleibt beim Faktischen und verzichtet auf Ausschmückungen oder Adjektivkaskaden. Die Trauer war und ist eine sachliche Trauer. Aus dem Französischen wurde das Buch von Richard Gross übertragen und ich denke, gut übertragen.
Das Buch machte mich auf ein Manko in meinem Parisbild aufmerksam. Die wenigen Male, die ich in Paris war, hatte ich das Gefühl auf eine kompakte Stadt aus Gegenwart und Geschichte zu treffen, eine Stadt also, die ihre Vergangenheit in sich bewahrt. Aber auch Paris weist, wie jede andere europäische Stadt nach der Zeit der deutschen Okkupation nicht zu füllende Lücken auf. Hier wuchs mir während der Lektüre Klarheit zu. Es ist etwas unwiederbringlich zerstört worden.
Marcel Cohen, Sohn sephardischer Juden, die in den Dreißigerjahren von Istanbul nach Paris gekommen sind, verzeichnet in diesem Buch die Erinnerungen an seine deportierten Verwandten, seine Mutter, seinen Vater, seine Schwester, Cousinen, Tanten und Onkel. Es sind Erinnerungen, die abbrechen. Abbrechen am Tag der Deportation aus Paris in die nationalsozialistischen Vernichtungslager. Cohens Mutter Marie wurde zunächst mit seiner Schwester in einem Krankenhaus interniert:
So wie Kinder unter sechs Jahren keinen gelben Stern trugen, überstellte die französische Polizei, nur jene Neugeborene an die Deutschen, die älter als sechs Monate waren. Nach ihrer Verhaftung am 14. August wurde Marie daher solange im Hospital Rothschild interniert, bis meine zu diesem Zeitpunkt drei Monate alte Schwester Monique das für die Reise nach Auschwitz via Drancy erforderliche Alter erreicht hatte.
Man könnte meinen, es sei viel, ja genug über diese Sache geschrieben wurden, die Fakten seien bekannt und kein vernünftiger Mensch wünsche sich so etwas wieder. Aber die Erinnerung wird abstrakt, wenn sie sich in allgemeine Denkbewegungen flüchtet. Die Zahl der Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft ist eine Zahl, sie entzieht sich der Vorstellung, auch wenn ihre Höhe uns unermesslich erscheint, oder gerade deshalb. Und sie ist unermesslich, der Verlust ist unermesslich, weil eben die Opfer, die ihn erlitten, ihn nicht ermessen können. Leben wurden nicht beendet sondern abgebrochen, sie werden unerfüllte und damit nicht endende Leben bleiben. Insofern stellt sich Marcel Cohen in seinem Projekt eine unlösbare Aufgabe, die trotz ihrer Unlösbarkeit angegangen werden muss.
Eine einzige Gewissheit: Es waren gerade die Unkenntnis, die Spärlichkeit der Fakten und die Leerstellen, die dieses Unternehmen geboten machten. Glauben zu lassen, diese Materialien seien zu gering, die Persönlichkeit der Verschollenen sei zu unscharf und – um einen Ausdruck zu benutzen, der schmerzt, aber helfen wird, mich verständlich zu machen – zu wenig „originell“ für ein Buch, hätte den geschehenen Ungeheuerlichkeiten weiteres Unrecht hinzugefügt.
Eine Passage des Buches beschäftigt sich mit zwei Fotografien, auf denen Jacques Cohen, der Vater von Marcel Cohen zu sehen ist. Geige spielend. Eine der Fotografien befand sich im Besitz des Autors, die andere im Fotoalbum eines Onkels. Auf den ersten Blick könne man denken, dass es sich um ein und das gleiche Bild handelte, aber bei genauerem Hinsehen stellt man die Unterschiede fest. Cohen, der seinen Vater nie Geige spielen gehört hat, untersucht diese Fotografien mit fast kriminalistischem Aufwand und legt sie Geigenexperten vor, zwei Schweizer Musikern, Jean Auberson und seiner Schwester Lise, die aus der Haltung des Instrumentalisten auf den Fotos einiges schließen können, unter anderem, dass es sich bei dem Spieler um einen geübten handeln müsse.
„Es sind Stellungen, die die belgisch-französische Schule auszeichnen. Diese Technik ist in der Ukraine und Nordeuropa verbreitet. Auch in Russland kann man ihr zuweilen begegnen. Es ist die Technik von Jascha Heifetz, von Dawid Oistrach, von Nathan Mühlstein.“
In dem Cohen das Spiel des Vaters genauer umreißt, wird der Verlust nicht getilgt aber genauer umrissen. Auch die Geige findet sich.
Auch wenn sie wie durch ein Wunder gerettet wurde, die Geige hat den fernen Schimmer eines kleinen Kometen. Man kann nicht vergessen, dass es auf der Rampe von Birkenau war, wo Jacques zum letzten Mal eine Geige spielen hörte.
Aus Fotos, Dokumenten und Gegenständen, die erhalten blieben, rekonstruiert Cohen das Leben seiner ermordeten Angehörigen. Und wie ihr Leben, muss diese Rekonstruktion unvollständig bleiben. Das heißt aber auch, dass es nie eine Welt geben wird, die vollständig ist.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben